Neuland: Wie ich jetzt auf meine Heimat blicke

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Als ich mich dazu entschieden habe, für mein Studium nach Bonn zu gehen, habe ich das vor allem getan, weil ich weg wollte. Weg aus meinem Heimatkaff, weg von den immer gleichen Orten und Menschen, weg, um Neues kennenzulernen. Ich war zufrieden mit meiner Jugendzeit und wusste auch, dass ich mit meinen Freund*innen aus der Schulzeit Kontakt halten würde – aber dort zu bleiben, war keine Option für mich. Zu langweilig, zu bequem, zu dörflich. Ich hatte das Gefühl, bereits alles Wichtige erlebt zu haben, was dieser Ort mir bieten konnte.

Denn meine Heimat ist in Bayern. Auf dem Stadlfest trägt man Trachten und meine Nachbarn haben eine Bayernflagge im Garten gehisst. Beim Bäcker bestelle ich Semmeln und sage sowohl zur Begrüßung als auch zum Abschied Servus. Die Biermarke der Wahl ist Augustiner, auch wenn ich Bier gar nicht so mag. Nur auf der Wiesn trinke ich eine Maß und gröle laut die Hits mit, bevor ich abends müde in die S-Bahn ins bayerische Umland steige. 

Mein neues Zuhause ist jetzt da, wo ich vor Corona noch im Hörsaal saß. Beim Bäcker überwinde ich mich, Brötchen zu bestellen und Servus hab ich mir schon abgewöhnt, weil das hier eh niemand versteht. Kölsch trinke ich auch nicht gerne, dafür genieße ich mein Radler im Hofgarten umso mehr. Karnevalslieder kann ich zwar immer noch nicht mitsingen, aber das macht nichts, wenn ich die richtigen Menschen um mich habe. Denn mein Zuhause ist jetzt da, wo ich neue Freund*innen gefunden habe und wo ich erwachsen sein kann. Wo ich neue Erinnerungen sammle und in mein Herz schließe wie wertvolle Schätze. WG-Partys, Ehrenamt, Joggen am Rhein und Sonnenuntergänge über der Stadt.

Mein Zuhause ist da, wo ich Angst habe, etwas zu verpassen, wenn ich nicht da bin. Hier ist noch nicht alles ausgeschöpft, hier habe ich noch offene Rechnungen zu begleichen, hier will ich noch bleiben. 

Nur, wenn ich zu Besuch in die Heimat fahre, kommt mir das, was ich dort sehe, gar nicht mehr so schlimm vor. Meine Freund*innen dort haben auch neue Erinnerungen geschaffen – ohne mich – und führen mir vor Augen, dass ich im Unrecht bin. Ich sehe, wie schön alles ist, wenn ich von Haus zu Haus fahre und bemerke, dass ich so viele Orte in Bayern und so viele Kneipen in München noch gar nicht kenne. Dass die Menschen dort in den letzten zwei Jahren genauso gewachsen sind wie ich.

Aber so wie ich Bayern bisher beschrieben habe, habe ich ja auch nur die Klischees aufgezählt. Denn wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist meine Heimat für mich eigentlich so: Morgens in den See springen, bevor alle anderen da sind. Der Edeka, wo ich als Jugendliche gearbeitet habe. Achtzehnte Geburtstage in Vorstadtgärten und trashige 16er-Clubs in München. Mit dem Rad durch den Wald zu meinen Großeltern fahren und Erinnerungen an das erste Mal verliebt sein. 

Ich liebe an meiner Heimat, dass die Menschen manchmal etwas unfreundlich wirken, weil Bayern eben direkt sind. Ich liebe es, den Dialekt zu hören, auch wenn ich ihn selbst kaum sprechen kann. Und vor allem liebe ich es, wenn in der Disco plötzlich der ganze Saal Skandal im Sperrbezirk mitgrölt, weil wirklich alle den Text auswendig kennen. Vielleicht kann das niemand nachvollziehen, der woanders aufgewachsen ist. Aber bei mir stellt sich direkt ein wohliges Gefühl ein und ich weiß, ich gehöre dazu, auch, wenn mein Zuhause jetzt woanders ist. 

Mittlerweile kann ich mir genauso gut vorstellen, für meinen Master wieder nach München zurückzukehren, wie nochmal eine neue Stadt zu entdecken. Zum Studieren wegzugehen, war eindeutig die richtige Entscheidung. Aber aus der Ferne kann ich jetzt sehen, dass ich mir mein Leben auch wieder dort vorstellen kann, wo ich mit 16 schon durch die Straßen gezogen bin. Und dass auch dort neue Erinnerungen auf mich warten.