Cave Syndrom – Warum Normalität Angst machen kann

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Im letzten Sommer habe ich viel mit Freund:innen darüber gesprochen, was wir machen wollen, wenn Corona vorbei ist. Eine Woche durchfeiern, in einem überfüllten Club tanzen, reisen, unsere Liebsten umarmen. Diesen Sommer ist klar, dass es diese Art von „vorbei sein“ nicht geben wird. Corona wird nicht platzen wie eine Seifenblase und danach werden wir uns auch nicht alle weinend in den Armen liegen. In den vergangenen eineinhalb Jahren wurde unser aller Alltag davon eingenommen, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Wir haben unsere Kontakte reduziert, vieles ins Digitale verlegt, Abstand gehalten und Masken getragen. Wir haben unser Sozialverhalten verändert, uns eingeschränkt und uns an die Pandemie angepasst. 

Seit Monaten leben wir damit, dass vieles ausfällt oder geschlossen ist. Und nun sind seit einigen Wochen wieder immer mehr Freiheiten möglich. Die Maßnahmen werden weniger und die Impfquote steigt. Doch sich jetzt wieder umzugewöhnen und in die alte „Normalität“ zurückzukehren, in der wir uns noch keine Gedanken darüber machen mussten, wann wir uns mit wem wo treffen, fällt nicht jedem leicht.

Auf den ersten Blick scheint es absurd, dass es schwerfallen kann, wieder mehr Sozialleben zuzulassen. Schließlich haben wir alle darauf gewartet, dass die Seifenblase zerplatzt und wir wieder mehr Freiheiten haben. Im Grunde ist dieses Verhalten aber ganz normal. Die Angst vor dem Virus haben wir in den vergangenen eineinhalb Jahren erlernt, erklärt der Psychiater Claas-Hinrich Lammers in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. 

In der Psychologie gibt es bereits einen Namen für diese erlernte Angst: Das Cave-Syndrom. Cave bedeutet Höhle und sinnbildlich gesprochen geht es um die Angst, nach langer Zeit in der Höhle wieder ins Licht zu treten. Allerdings hinkt dieses Bild aktuell noch, schließlich haben wir das Innere der Höhle, also die Pandemie, noch nicht verlassen. Nur das Leben in der Höhle und der Blick aus ihr heraus hat sich verändert. Das Cave-Syndrom ist also mehr eine antrainierte Angstreaktion und Anpassungsverzögerung als eine manifeste Angsterkrankung.

Ängste können irrational sein und folgen einer eigenen Logik. Schließlich lässt es sich beispielsweise faktisch belegen, dass Autofahren gefährlicher ist als zu fliegen. Trotzdem haben viele Menschen eher Angst zu fliegen, als Auto zu fahren. Ich kann also wissen, dass meine Angst irrational ist, und sie trotzdem nicht ändern. Aber wir können Ängste auch wieder abtrainieren. Auch Psychotherapie kann helfen sich seinen Ängsten zu stellen. Während der Pandemie geht es aktuell eben nur mit Vorsicht. 

Trotzdem sollte die Angst vor einer Infektion nicht größer sein als die vor sozialer Isolation. Leben in dieser Pandemie bedeutet auch, Situationen ständig neu und nicht pauschal zu bewerten. Wir sollten uns alle unsere Zeit nehmen und anderen geben, sich anzupassen und auf die neue Situation einzustellen. Ein Besuch im Biergarten kann zum Beispiel ein Anfang sein.