Die Qual ohne Wahl

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Nichtwähler. Ein Begriff, der Studierenden mindestens ein Gefühl des Unverständnisses bescheren sollte. Wie kommt es also, dass fast keine Studierenden bei den Wahlen ihrer eigenen Hochschulparlamente wählen gehen? Vincent Rastfeld hat mit Mitgliedern einer Bonner Hochschulliste und einem Demokratieforscher gesprochen, um mögliche Gründe zu erfahren.


Wahlbeteiligungen zwischen 2 und 31 Prozent. Bei jeder anderen Wahl würde das eine ausgewachsene demokratische Krise bedeuten. Wenn an Universitäten in Deutschland die Studierendenparlamente gewählt werden, sind diese Zahlen Jahr für Jahr normal. Doch warum ist das so? Gelten nicht gerade Studierende als politisch interessiert und engagiert? Schließlich lag die Wahlbeteiligung der 19-29-Jährigen bei den Bundestagswahlen 2021 bei 71,4 Prozent.

Für Professor Dr. Rudolf Stichweh, Leiter der Abteilung Demokratieforschung vom Forum Internationale Wissenschaft in Bonn, ist mangelndes politisches Interesse nicht die Antwort auf die Frage, wo die geringe Wahlbeteiligung bei den Hochschulwahlen herrührt. Seiner Auffassung nach liegt das Problem eher an der grundlegenden Struktur von Hochschulpolitik. „Wenn man an eine Hochschule geht, hat das eigentlich nichts mit Politik zu tun,“ so Stichweh. „Manche Themen an Universitäten sind zwar politisierbar, aber dann sehr kleinteilig und nicht für das Gros der Studierenden interessant. Betroffen sind meist nur einzelne Studiengänge oder Fachschaften.“

Eine Aussage, der Madita Mues und Jonathan Andraczek nicht zustimmen würden. Sie sitzen für die Grüne Hochschulgruppe (GHG) im Studierendenparlament der Universität Bonn. Jonathan Andraczek ist zudem Vorsitzender des AStA (Allgemeiner Studierenden Ausschuss Anm. d. Red.). Sechzehn von 43 Plätzen im Parlament hat die GHG inne, und stellt somit die größte Fraktion unter den sieben Hochschullisten. „Ich glaube, dass die Wirkung des Studierendenparlaments unterschätzt wird,“ sagt Mues. „Denn vielen Studierenden ist wahrscheinlich nicht bewusst, dass ein Großteil des Semesterbeitrags von den Studierendenvertreter:innen verwaltet wird.“ 

19 Millionen Euro beträgt das Budget damit in der einjährigen Legislaturperiode. Darin enthalten sind zum Beispiel das Semesterticket für den Nahverkehr in Nordrhein-Westfalen und auch das Kulturticket. Damit können Studierende der Uni Bonn ermäßigten Eintritt in Theater, Oper und diverse Museen in Bonn erhalten. 

Dass das Interesse an den Hochschulwahlen in Bonn mit knapp 13 Prozent Wahlbeteiligung ebenfalls nicht groß ist, können Mues und Andraczek allerdings nicht bestreiten. „Ein Problem ist glaube ich wirklich, dass viele Studierenden neben ihrem Studium keine Motivation haben, sich tiefer mit Angelegenheiten ihrer Universität auseinander zu setzen,“ so Andraczek. In den vergangenen zwei Jahren wurde dies durch die Pandemie nochmals verstärkt. „Ich habe 2020 angefangen mit meinem Studium und hab somit bisher ausschließlich Online-Veranstaltungen gehabt. Dadurch hat man so gut wie keinen Bezug zu der Uni und was dort an Möglichkeiten besteht, sich einzubringen,“ fügt Madita Mues hinzu.

Den fehlenden Bezug zur eigenen Universität hat Professor Rudolf Stichweh bereits vor dem Ausbruch der Pandemie beobachtet. „Aktuell ist die Struktur an Universitäten alles andere als glücklich. Das Studium trägt durchschnittlich immer weniger zur eigentlichen, beruflichen Karriere bei.“ Die Auswirkungen davon schlagen sich seiner Auffassung nach auch im schwindenden Interesse an den Hochschulwahlen nieder. „Wenn der Einfluss des Studiums auf die Karriere sinkt, sorgt es dafür, dass sich Studierende immer individuellere Wege neben ihrem Alltag an der Universität suchen müssen. Dadurch verschiebt sich die Aufmerksamkeit immer weiter vom Kollektiv des jeweiligen Studiengangs fort und macht hochschulinterne Probleme nebensächlicher.“  Wie weit diese Entwicklung bereits zurückreicht, kann Professor Stichweh dabei am eigenen Beispiel verdeutlichen. „Ich habe 1972 angefangen zu studieren und bis auf wenige Reste der 68er Bewegung habe ich so gut wie nichts von der Politik an Hochschulen mitbekommen. Ob ich selbst wählen war, kann ich gar nicht mehr sagen.“

Ändern ließe sich das seiner Meinung nach nur, wenn sich die Hochschulpolitik auf Landes- und Bundesebene wandeln würde. Aber: „Es gibt keine großen hochschulpolitischen Debatten zurzeit, obwohl Hochschulen ein so wichtiger Bestandteil der Gesellschaft sind. In den 60er und 70er Jahren wurde die Gründung neuer Hochschulen von Bund und Ländern forciert. Dementsprechend groß wurde der Stellenwert für dieses Thema, und dementsprechend kontrovers wurden die Diskussionen.“ Dass sich der Stellenwert von Hochschulen für die Parteien der aktuellen Bundes- und Landesregierungen demnächst allerdings ändert, hält Stichweh für unwahrscheinlich. „Eigentlich müsste es unter den Studierenden eine ausgeprägte Unzufriedenheit angesichts der Qualität des Studiums geben, aber die meisten sehen dieses Problem nur noch mit einem gewissen Zynismus und kämpfen sich um des Abschluss Willens durch diese Zeit.“ Dadurch erscheint es weniger wahrscheinlich, dass die Bildungsministerien auf die Lage aufmerksam werden.

Das sehen Madita Mues und Jonathan Andraczek ähnlich. „Die Wahlbeteiligung steigt nicht von allein. Das geschieht meist nur, wenn vorher ein größerer Prozess in Gang gekommen ist,“ sagt Mues. Nichtsdestotrotz versuchen die beiden Parlamentsmitglieder weiterhin ihre Wahrnehmung zu erhöhen. „Die jeweiligen Hochschulgruppen sind natürlich auch auf Plattformen wie Instagram aktiv, um ein wenig Aufmerksamkeit zu erhalten und den Kontakt während der Pandemie zu den Studierenden zu wahren,“ so Andraczek. Dort kann das Wahlprogramm vorgestellt und auch für die Wahl generell geworben werden. 

Genug Gründe wählen zu gehen, gibt es laut Mues und Andraczek allemal. „Alleine wegen des großen Haushalts, über den das Studierendenparlament verfügt, lohnt sich die Wahl, weil der Einsatz dieser Gelder je nach Hochschulgruppe anders aussehen kann. Darauf hat die Wahlstimme definitiv Einfluss,“ sagt Mues. „Abgesehen davon ist Studieren auch heute noch eigentlich so viel mehr als nur vor dem Laptop zu sitzen und das kann man auch erleben, wenn man sieht, woran im Studierendenparlament überall gearbeitet wird.“ 

Für Jonathan Andraczek spielt auch die zwischenmenschliche Ebene eine Rolle: „Als AStA-Vorsitzender sitze ich teilweise als einziger Student in einer Runde mit den Dekanen und dem Rektor. Da kommt es natürlich auch darauf an, wie die Studierenden repräsentiert werden und eigentlich hat ja jeder eine Vorstellung, wie das am besten gemacht werden sollte.“ Bei der Wahl kann man sich entscheiden, welcher der Kandidat:innen dieser Vorstellung am ehesten entspricht.

Womit wieder die Frage nach dem Interesse in den Vordergrund rückt. Auch in ihren Freundeskreisen merken die beiden, dass ihre Argumente nicht immer ausreichen. „Manche haben den Eindruck, dass es eine Alibi-Beschäftigung ist, im Studierendenparlament zu sitzen,“ erzählt Andraczek. Wie sich das in Zukunft ändert und ob Hochschulpolitik in der nahen Zukunft überhaupt wieder an Relevanz gewinnt, bleibt abzuwarten. Viel weniger kann es zumindest kaum werden.