Der Abend startet mit kollektivem Smalltalk. Es wird sich untereinander ein frohes Fest gewünscht. Daran knüpft nahtlos, ja fast unbemerkt, der über die Jahre hinweg perfektionierte Fragenkatalog der Verwandtschaft an. Was die Arbeit so macht. Und die Gesundheit. Und die Kinder, wie geht es denen? Ob sie schon wüssten, wohin mit sich, auf lange Frist. Dass es ja so lecker rieche und danke für die Einladung. Lasst uns Platz nehmen, das Essen ist fast fertig.
Weiter geht’s mit kollektivem Schweigen, gebeugt über die Tellerränder. Da sitzen wir nun. Alle um den kleinen Küchentisch. Heute ist das raue Holz bedeckt mit glanzbesticktem weißem Stoff. Heute zieren Lichterketten Fensterbrett und Lampenschirm. Der goldgelbe Strohstern, der seit Generationen weitergereicht wird, baumelt schüchtern zwischen unseren Köpfen und vor uns stapelt sich die erste Fuhre Kartoffeln auf dem gutem Keramik-Service. Das mit Goldrand, für besondere Festivitäten. Das wir über die vergangenen zwölf Monate fast schon wieder vergessen haben.
In der Mitte des Tisches, zwischen Schälchen mit allerlei Leckereien, thront der schwarze Klotz aus Gusseisen. Darin eingekerbt, acht Vertiefungen für die Pfännchen, doch wir sitzen dieses Jahr nur noch zu siebt am Tisch. Sechs davon, die sich an Weinglasstiele klammern. Noch fünf Minuten, dann sind die vier Streifen Putenfleisch fertig, ruft es aus der Küche. Wir ärgern uns über den Fleischkonsum der Familie und sehen dabei aus drei Mündern schon den Hunger triefen. Irgendwer hat sich wie jedes Jahr zwei Pfännchen abgegriffen. Einen Moment lang kämpfen wir damit, die aufflammende Panik herunterzudrücken. Keiner traut sich zu bekennen und allen steht der Stress ins Gesicht geschrieben.
Wir sind ein Kollektiv aus knapp verfehlten Augenblicken. Wir sitzen da und starren. Starren aneinander vorbei und angestrengt auf unser antihaftbeschichtetes Pfännchen. Wie es blubbert und brutzelt, belustigt über unsre stummen Tischgespräche. Dann schießt die Käseblase in die Höhe, dann tropft der flüssige Fromage über unseren Pfannenrand. Jedes Jahr laden wir uns zu viel auf, stopfen zwischen Mais und Pilz und Paprika noch ein kleines bisschen Hoffnung mit hinein. Nur ein Löffelchen, ein Gäbelchen zu viel. Wir sind uns sicher, die geschicktesten Weihnachts-Hochstapler:innen zu sein.
Es zischt laut, als der Käse auf das heiße Eisen tropft. Dann riecht es verbrannt. Jemand lüftet, alle anderen stagnieren mit dem Blick auf dem festkrustenden Käseklumpen. Wir schauen in die Runde. In den Brillen der Verwandtschaft spiegelt sich der Baum. Wie ein stiller Beobachter steht er dort in unserem Rücken und lauscht dem Schweigen und dem Starren. Wir stellen uns vor, der Baum stünde in Flammen. Einfach so, Brandalarm ganz nebenbei. Das würde keiner kommen sehen. Das würde keiner überstehen. Unterdessen kokelt brav der Käse weiter und davon angeschwärzt brennt in unseren Köpfen unser Weihnachtsbaum. Ästeweise fallen flammenrote Kugeln auf Geschenke Türme, die wir dieses Jahr zwecks Umwelt nur in alte Zeitungen eingeschlagen haben. Die brennen nun noch schneller als gedacht. Die schlagen lichterloh und wild mit Feuerzungen um sich. Auch der Kokel-Käse-Rauch schlägt Purzelbäume, fadenscheinig durch den Raum. Die offene Terrassentür nützt kaum, es stinkt ganz scheußlich, stößt uns vor die rotgebackten Köpfe.
Darauf folgt ein kollektives aus den Augen aus dem Sinn. Geräucherter Nordmanntannen-Duft liegt in der Luft. Wir haben den Baum in Brand gesteckt und keiner merkts. Wir starren in die Runde, wollen uns in den ausdruckslosen Augen der Familie verhaken. Wir gucken alle an und alle gucken angestrengt auf ihre Teller. Warum scheint hier niemand zu bemerken, wo es wirklich brennt? Von draußen vom Walde kommen wir her, wir müssen euch sagen, es weihnachtet sehr, überall auf den Tannenspitzen, sehen wir knallrote Flammen aufblitzen. Wir stellen uns vor, das Feuer leckte an unseren glatt geföhnten Haaren. Wir meinen zu spüren, in Flammen aufzugehen. Panisch drehen wir uns um, werfen einen Blick auf den Baum, den stillen Boten. Alles gut. Alles noch grün, nur die gelben LEDs sind wirr am blinken.
Das Erste, woran wir uns erinnern, ist die Zimmertür, die knarrend aufschnappt. Durch den Spalt schiebt sich der Kopf der Mitbewohnerin. Blickt mit sanften Augen in den Raum, schiebt den ausgestreckten Arm in unsre Richtung. Schiebt uns eine grüne Tasse voll mit Kaffee und Hafermilch entgegen. Es riecht schön milchig-warm und süßer Bohnenduft drückt langsam letzte Rauchschleier aus unsrem Zimmer. Noch zwei Tage bis Weihnachten, denken wir und nehmen einen dampfend heißen Schluck aus der grünen Keramik.