Überwintern

Fotografie: Finn Röhmer-Litzmann

Fuck. Der Aufprall schmerzt höllisch. Steißbein küsst Asphalt. Ich wollte doch bloß die letzten 100 Meter bis zur Haltestelle rennen, weil ich echt dringend diesen Bus erwischen musste. Zahnarzttermin. Ich war (mal wieder) zehn Minuten im Verzug. Noch kurz zuvor dachte ich, wie ätzend es jetzt wäre, im Regen warten zu müssen – und liege nun im nassen Laub, auf dem ich gerade filmreif ausgerutscht bin. Bridget Jones wäre stolz auf mich. Die neue Hose ist am Arsch komplett durchnässt und mir geistert sofort die Stimme meiner Mutter im Kopf herum. Irgendwas von wegen ‚na los, steh auf, sitz nicht so blöd auf dem kaltem Stein herum, sonst gibt’s wieder ne Blasenentzündung‘. Ach fuck. Da entgleist auch schon die erste Träne, rinnt mir über die Wange, versickert im grünen Strickpullunder. 

Als ich vor einer Woche aus dem Sommerurlaub wiederkam, konnte ich greifbar spüren, wie sich der Herbst in meiner Abwesenheit hinterlistig und unaufhaltsam in die Stadt geschlichen hatte. Ja, die Temperaturen überstiegen zwar noch die 25 Grad Marke und ja, man konnte auch abends noch im Kurzarmshirt im Park sitzen. Aber alles in allem war mir klar, die Stadt gab eindeutig nur vor, den sich weg stehlenden Sommer nicht zu bemerken. Doch ich ließ mich von überquellenden Eisdielen und Parks nicht hereinlegen, so leicht nicht.

Sieht denn niemand, wie die braunen herabstürzenden Blätter bereits die Gehwege zudecken? Als wollten sie sie vor der bald hereinbrechenden Kälte schützen. Ein wärmender Mantel sozusagen. Ein lieb gemeintes Tuch, unter dessen Schutz die Straßen den nahenden Herbst und dann auch Winter nicht zu sehen bräuchten. Weiter träumen könnten. Von blanken heißen Kinderfüßen, tropfendem Stieleis und Wasserpistolenschlachten. All dem eben, das sie den Sommer über gesehen, gespürt, aufgesogen hatten. Konserviert unter dem Blattmantel bis zum nächsten Jahr. Ich denke daran, wie schön es wäre, mich unter diese braungelbe Decke aus Blättern zu kuscheln. Mich in ihr einringeln zu können und gemeinsam mit den Straßen der Stadt in Sommer-Träumen schwelgend die kalten Monate zu überwintern.

Stattdessen sitze ich nun hier mit nassem Arsch auf dem Boden und mein Bus brettert mit vom Regen quietschenden Reifen an mir vorbei. Fuck echt, den Termin kann ich vergessen. Mit meiner feucht-schmutzigen Hand wische ich mir über die Augen, in dem Versuch, die Tränen in ihre Schranken zu weisen. Klappt so semi gut, aber was soll’s, auch egal jetzt.

Auf dem Heimweg frage ich mich, warum so viele (mich eingeschlossen) den Winter eigentlich so fürchten. Warum Menschen die gesamte kalte Jahreszeit nur damit beschäftigt sind, sich den Sommer wieder herbeizuwünschen. Im Winter in wärmere Gegenden fliehen. Wochen- und monatelang stetig jammern, dass das Leben ja auf einmal so viel beschwerlicher wäre. Und ob der Winter es denn wirklich verdient hat, von so vielen so derart degradiert zu werden, das frage ich mich auch. Nicht, dass ich selbst die Ausnahme wäre, echt nicht. Wenn ich könnte, läge ich jetzt tatsächlich unter der Laubdecke und verschlief den Winter in einer Traumwelt aus Orangensaft und Bikinitop und Calippo Cola.

Da die Realisierung davon aber eher schwierig  bis unmöglich sein dürfte, stelle ich mir nun eben stattdessen diese Fragen. Und auch, ob der Winter denn nicht viel schwerer auszuhalten sein wird, wenn ich mir jeden Tag zwanzig Mal sage, dass ich gerade lieber im Warmen säße. Meinen Arsch lieber in die Sonne strecken würde.

Zuhause angekommen setze ich mich an meinen Schreibtisch. Aus einer der Schubladen ziehe ich mein Schreibheft und nehme dann meinen Lieblings-Kugelschreiber aus der schmalen Federmappe. Die Mine ist orange und erinnert mich an Sommer, Saft und Spanien. Auf einer leeren Seite beginne ich zu schreiben. Ich schreibe einfach wahllos drauf los, lasse meine Gedanken in das Papier fließen. Streife sie von mir ab, als würde ich die Schale einer Orange abpulen. Als würde ich die sich schälenden Hautfetzen meiner Sommerbräune abknibbeln. Arbeite mich vor bis auf das weiche Fruchtfleisch, mein von Kälte eingeschüchtertes Herz. Schreibe auf, weshalb ich glaube, dem Winter mit so viel Unbehagen entgegen blicken zu müssen. Weshalb mir die Dunkelheit im Dezember Angst bereitet.

Ganze Seiten kritzele ich voll mit Dingen, die ich vermissen werde, wenn es draußen grau und nass und kalt sein wird. Warmer Wind auf nackter Haut. Kaltes Bier abends im Park. Dass alle immer zu lächeln scheinen. An den See fahren. Wie die Depression weniger wiegt. Freiluftkino und keine Jacke einpacken zu müssen. Ich schreibe, bis meine Hand weh tut. Ich schreibe und schreibe und mit jedem Wort, das auf dem Papier erscheint, fühle ich mich ein wenig leichter. Das kommt ja alles wieder, im nächsten Sommer, beruhige ich mich. Und in dem Sommer darauf. Und in dem darauf auch. 

Meine Augen tasten die mit orangefarbener Schrift vollgestopften Seiten ab. Saugen die warmen Gedanken auf. Ich bin mir in diesem Moment sicher, dass ich das immer und immer wieder tun werde, in dem Winter, der jetzt kommt. Dass ich jedes Mal, wenn die Kälte kaum mehr erträglich zu sein scheint oder der Schneematsch einfach nur wieder widerlich graubraun an den Häuserecken klebt, mein Schreibheft hervorhole. Und dass ich dann einfach lesen werde. Meine orangefarbenen Erinnerungen. Die Anhäufung all jener Dinge, die für mich Sommer bedeuten. Und dass die Wärme dabei ganz behutsam in mich hinein tröpfeln wird.

Julia Zipfel

Julia (24) studiert Internationales Grundschullehramt, wohnt in Köln und schreibt dort ihren Bachelor. Sie liebt schöne Worte, verpackt Emotionen gerne in kreative Texte und trinkt dabei am liebsten Hafermilchkaffee. Bei Canapé schnuppert sie erstmalig Redaktionsluft und schreibt fleißig Artikel für die Website.

@julia__zi

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