Und morgen bleib’ ich dann (vielleicht) daheim — wie FOMO mein Leben dirigiert (hat)
Es ist schon wieder Juni, die Nächte werden kürzer, die Tage wärmer. Der anklopfende Sommer kann immer öfter meinen Alltagsstress übertrumpfen mit seinen überlaufenden Eisdielen, nach Aperol Spritz duftenden Parks und Sonnenbrillen, die in der Kategorie Unbesiegbarkeits-Faktor gegen Unendlichkeit gehen. Unfuckingfassbar, was so ein paar unschuldige Sonnenstrahlen alles bewirken können. Schaut alle her! Ich bin hot, hab Bock und hustle von einer Gartenparty zur nächsten. Ich triefe nur so vor neugewonnenem Selbstwertgefühl und lege es darauf an, mir ein Summer Babe anzulachen.
Schon trudelt ein cooles Outdoor Event nach dem anderen in meinen DMs ein. Heute gegen frühen Abend wollen ein paar meiner Uni-Freund:innen im Stadtpark zu einem Picknick-Umtrunk gehen. Danach findet ein Konzert in meiner Lieblingsbar statt. Und was ab Mitternacht passiert, schauen wir dann spontan.
Noch bevor ich mir genauere Gedanken machen kann, wie ich am besten auf so vielen Veranstaltungen wie möglich mein Tanzbein schwingen kann, wälze ich mich erst einmal aus meinem Bett, um in den Tag zu starten. Meine Agenda ist heute bis obenhin vollgestopft mit To Do’s. Ich bin pausenlos auf Achse, springe von Arbeit zu Bachelor Thesis und dann direkt in die Dusche. Renne zwischendurch noch schnell zu Rewe und brauche ganz dringend einen ordentlichen Kaffee. Für eine ausgewogene Mahlzeit bleibt da leider keine Zeit und auch das längst überfällige Workout muss büßen. Eigentlich weiß ich ja auch ganz genau, dass Sport mir gerade mehr als gut tun würde. Mich ein wenig aus meinem Alltags-Hamsterrad zerren und mir immerhin ansatzweise den längst überfälligen Stressausgleich verschaffen könnte. Wo ich doch sowieso meinen Körper schon habe schleifen lassen, immer auf Funktionsstufe Maximum gedrillt. Naja, dann eben nächste Woche.
Um sechzehn Uhr falle ich erschöpft auf mein Bett und will eigentlich nur noch schlafen. So sehr ich mich heute Morgen noch über die vielen Einladungen gefreut habe, so sehr wünsche ich mir in diesem Augenblick, nicht eine einzige erhalten zu haben. Irgendwie seltsam kantig fühlt sich dieser Gedanke an, den ich in meinem Kopf hin- und herschiebe. Fast so, als würde ich meine Freund:innen verraten. Als wäre ich undankbar und würde mein Glück nicht genug zu schätzen wissen. Andere würden alles dafür geben, ein so stabiles soziales Netzwerk um sich zu wissen und dann auch noch eine Auswahl an tollen Abendprogramm-Aktivitäten genießen zu dürfen. Weshalb also würde ich dann gerade am liebsten so tun, als hätte ich auf keine der Einladungen mit einem freudigen ‚cool, bis später‘ reagiert?
“Sag doch einfach ab”, rät mir meine Mutter, als ich ihr von meinen Entscheidungsfindungsproblemen berichte. Aber Mama, so einfach ist das eben nicht. Wenn ich mich jetzte dazu entschließen würde, zu Hause zu bleiben, hieße das primär nicht Entspannung. Stattdessen zöge es eine Kettenreaktion aus Entschuldigungen, Rechtfertigungen und Ausreden mit sich. Und das alles im Plural, da ich ja nicht nur einer, sondern direkt mehreren Personen absagen müsste.
Noch bevor ich ernsthaft auch nur in Erwägung ziehe, mich und meinen Körper doch tatsächlich zu priorisieren, rasen mir all’ diese Gedanken durch den Kopf. Sie ermüden mich bereits in diesem Moment so sehr, dass der Aufwand des Absagens mir anstrengender erscheint, als den Abend schlicht und einfach durchzuziehen. Dann also hoffen, dass ein paar Bier die Energie und Lust am Feiern doch noch hervorzaubern werden.
Die Entscheidung ist also gefallen. Jetzt aber flott, denn ich bin dank meiner Gedanken-Exkursion spät dran und suche in Eilgeschwindigkeit ein süßes Outfit raus. Ich umrahme meine Augen mit dem farblich passenden Eyeliner und packe im aus-der-Tür-gehen noch schnell meinen Lipgloss in den Jutebeutel. Als erstes schlage ich den Weg in Richtung Stadtpark ein. Mir fällt wieder ein, dass nicht nur meine Freund:innen aus der Uni dort sein werden. Wir sind selbst nur der Anhang des Anhangs einer Bekannten bei der Picknick-Sause. Wie hieß sie noch gleich? So richtig kenne ich sie eigentlich gar nicht. Aber das ist egal, denn ich liebe es ja auch, neue Menschen kennenzulernen. Selbst, wenn ich aktuell absolut keine Kapazitäten für neue Kontakte in meinem tighten schedule habe.
Während ich so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass die Anstrengung des Absagens zwar eine unfassbar große Hürde zu sein scheint, da jedoch noch etwas ganz anderes lauert. Etwas, das den ausschlaggebenden Faktor darstellt. Wenn ich nun heute nicht nur ein, sondern direkt mehrere Events verpasst hätte, könnte ich ja morgen überhaupt nicht bei all den Gesprächen mithalten. Denn ich weiß, dass ein Abend reicht, damit sich Stories über Stories häufen. Neue Freundschaften werden geschlossen, Pläne für morgen, übermorgen oder den Tag danach werden geschmiedet. Und manchmal, wenn es ein besonders wilder Abend ist, werden sogar Urlaube geplant. Ich möchte mir also gar nicht erst vorstellen, wie es wäre, am nächsten Tag neben all meinen Freund:innen zu stehen, während zwischen ihren Lippen der Klatsch und Tratsch der letzten Nacht hin und her hüpft. Und alles, was ich am Vorabend erlebt habe, die neue Sorte veganer Gummibärchen ist.
Dann also lieber kontinuierlich am Limit sein und weiterhin von Party zu Party jetten, mir bloß nichts entgehen lassen. Die anderen sollen sehen, wieviel Spaß man immer und zu absolut jeder Zeit mit mir haben kann. Ich hab Bock und bin am Start, denn Events gibt es schließlich bis zum Umfallen. Nur, dass ich auf meiner Freizeit-Überholspur niemals umfalle, ich doch nicht.
Na, fühlst du dich ertappt? Hast du gerade während des Lesens deine Nachrichten gecheckt oder darüber nachgedacht, auf welche Party du später gehen sollst? Schwirrt dir vielleicht die Frage durch den Kopf, was deine Freund:innen wohl gerade ohne dich machen und wann du nun dieses eine Bild von gestern Abend in deiner Story teilen sollst?
Freizeit, Freunde, Feierlaune – das ist ja alles schön und gut, aber wann kommt der Zeitpunkt, an dem wir gegen die Wand fahren, unsere scheinbar unerschöpflichen Energie-Ressourcen sich verflüchtigt haben? Und vor allem, wie gehen wir dann mit diesem Zeitpunkt um?
Für mich war dieser besagte Moment, wer hätte es gedacht: Schocktherapie Erasmus. Noch nie zuvor wurde ich von solch’ einer potentiellen Freundschafts-Flut überrannt, während ich mich parallel tagtäglich zwischen zwanzig spaßig klingenden Abendaktivitäten entscheiden musste. Sodass im Folgeschluss die freudige Fülle toller Alltags-Programmpunkte zu meiner persönlichen Freizeit-Hölle wurde. Ich befand mich in einer Phase des emotionalen und gedanklichen Umbruches und spürte auf einmal, dass ich mich von dem Sog der sozialen Verpflichtungen lösen musste. Zeit mit mir selbst verbringen. Zur Ruhe kommen. Struktur nicht nur innerlich anstreben, sondern diese auch in meinen Alltag integrieren. Und zwar mit sofortiger Wirksamkeit. Um dann im Gegenzug meine Freizeit präsenter und ausgeglichener erleben und genießen zu können. Während mir also von meinen Freund:innen mit Beerpong, Beach Day oder doch lieber Bartour der Abend schmackhaft gemacht werden möchte, entscheide ich mich entschlossen für mein Bett. Einfach mal entschleunigen und besinnen statt berauschen.
Heute kann ich ich in den meisten Fällen entspannter einfach mal absagen. Sorry Leute, ich verkrieche mich in meinem Bett und schaue Netflix oder lese mein Buch. Ja, ich weiß, es ist Freitagabend, na und? Aber wir gehen in unsere Stammkneipe, auf drei bis fünf Bier und du bist doch sonst nicht so. Komm schon, das wird wild. Ich will aber nicht wild, nicht heute. Heute möchte ich schlichtweg das Rauschen meiner eigenen Gedanken hören. Während im Hintergrund Cam von Modern Family herum plärrt und ich mir vegane Gummibärchen in den Mund schiebe. Vielleicht bin ich nächstes Mal wieder dabei, versprechen kann und will ich das noch nicht. Mittlerweile erlaube ich mir nämlich ein ‚vielleicht‘ nicht nur zu denken, sondern es auch auszusprechen. Denn wenn nicht ich sensibel und verständnisvoll mit meinen eigenen Energiereserven umgehe, wer tut es dann?
Fotografie und Gestaltung: Julia Zipfel