Der männliche Blick

Rücken grade, Bauch rein, Brust raus. Zieh‘ dich weiblicher an, zeig‘ weniger Haut. Du musst mit den Reizen einer Frau spielen, aber inszenier‘ dich nicht. Du sollst gut aussehen, wenn du weinst, und den Mund halten, wenn ein Mann das Wort erhebt. Zusammengewürfelt aus den Fragmenten der männlichen Fantasie. Der Mann bestimmt die Norm der Frau: Weiße Zähne, devotes Lächeln, langes Haar, glattrasiert und porenrein. 32-34-36. Der weibliche Körper in die Kinderabteilung gesteckt. „Ich habe einen Freund“, der magische Satz, der die Triebtäter verschreckt. „Ich bin bereits im Besitz eines anderen Alphatiers“, könnte ich stattdessen sagen. Aber du bist kein Sexist, denn du liebst alle Frauen. Fetischisiert, ausgebeutet, diffamiert und getötet. Aber weißt du was? Es ist mir scheißegal, was dir gefällt und was nicht. Ich bin laut, mische mich ein, mische dich auf und biete dir die Stirn. Die Erziehung meiner Mutter als intellektuelle Waffen mit denen ich dir den Boden unter den Füßen wegreiße. Don’t dress your daughter, educate your son. Körbchengröße, Stimmfarbe, Kochtalent, Heilige und Hure. Frauen reduziert auf Puppen mit motorischen Funktionen. Frauen, der Ursprung der Welt, doch durch die Augen des männlichen Helds, wurde unser Wesen entstellt. Ein täglicher Kampf, ein Kampf seit meiner Kindheit, bis in alle Ewigkeit. Ein Kampf, den ich lieben gelernt habe, denn ich kämpfe, um zu leben.

Du willst meine Haut berühren, mein Make-Up zerstören, mich mit nach Hause nehmen und das ohne mein Einverständnis, du fragst mich nicht. Hektische Blicke eilen durch dunkle Straßen, links ein Modeschmuckladen, rechts eine kleine Bar, die Fenster vergittert. Im Ernstfall werde ich ‚Feuer‘ rufen, weil bei ‚Hilfe‘ keiner kommt. Kopfdrehen, niemand hinter mir. Doch, da kommt mir einer entgegen, hastig die Straßenseite wechseln. Er wechselt auch. Aus ruhigem Herzschlag wird ein Pochen, ein Hämmern. Er bleibt stehen, wühlt in seiner Hosentasche, zieht, zielt und steckt den Schlüssel in das Schloss. Zum Glück ist das keine Metapher, sondern eine Beobachtung. Der Puls normalisiert sich schleppend, bis ich endlich vor meiner Haustür stehe und wieder atmen kann. Eine Hand zur Faust geballt, die andere umklammert das Pfefferspray. Scham, Angst, Schmerz, und vor allem Wut glühen in meiner Brust, doch der Körper ist taub, eingeschlafen, gelähmt oder schon tot? Verschreckt wie ein junges Fohlen, wurde mir ein weiterer Tag gestohlen. Ich hab‘ es satt, dir zu sagen, was du falsch machst. Ich hasse es, wie du mir meine Welt erklärst. Wenn ich ein Taxi rufe, dann sitzt die Angst vor einem Übergriff neben mir auf der Rückbank. Ich kann nachts nicht spazieren gehen, darf nicht über Autos reden, soll Prosecco mögen, deine Kinder ins Bett bringen, dich befriedigen und dir dankbar sein. Ich muss mich dir präsentieren als eine Ware, die du nicht bezahlen wirst. Aber ich bezahle dafür einen hohen Preis, wahrscheinlich sogar einen der höchsten. Ich trage Kopfhörer, doch da spielt keine Musik. Möglichst unscheinbar bleiben, den sicheren Weg nach Hause wählen und regelmäßig umdrehen. Paranoia, eine psychische Stöung, in deren Mittelpunkt Wahnbildungen stehen. Klassische Konditionierung, eine Lernform, bei der der Organismus keine Kontrolle über den Reiz oder die ausgelöste Reaktion hat. Die Angst ist ein Teil von mir geworden und versteckt sich hinter Straßenecken, in der U-Bahn, im Hellen und im Dunkeln. Du kannst sie nicht immer sehen, aber sie sieht dich, denn: Ein schwarzes Loch verschlingt Dinge1.


1Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume 2021, S. 317.

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