Du stehst am Fenster und drehst mir den Rücken zu. Die Sonne malt feine Muster auf dein knallrotes Tanktop und ich sehe, wie sich deine Muskeln abwechselnd anspannen und entspannen. Ich sitze zusammengekauert auf deiner Bettkante und weiß nicht so recht wohin mit meinen Gliedmaßen. Also ziehe ich die Knie noch ein wenig näher an die Brust und schlinge meine zitternden Arme um meinen Körper. In dieser Position fühlt es sich fast so an als würde ich von dir gehalten werden. Aber auch nur fast, denn sich selbst zu halten, fühlt sich letztendlich doch immer ein Stückchen weniger umschlungen und beschützt an.
Nachdem ich minutenlang an die weiße Raufasertapete deiner Decke gestarrt habe, wandert mein Blick wieder hinüber zu dir. Die Sonne muss wohl gerade hinter einer Wolke verschwunden sein, denn mittlerweile stehst du nicht mehr in ihrem goldglänzenden Scheinwerferlicht. Und überhaupt scheint sich der Raum in den vergangenen zwei Minuten um ein Vielfaches verdunkelt zu haben. Bei genauerem Hinsehen bemerke ich, dass sich deine Schultern ganz leicht heben und senken. Mist. Du weinst und ich hocke mit 1,5 Metern Entfernung auf deinem Bett und weiß nicht so recht, was ich für dich tun kann. In regelmäßigen Abständen schwappt ein Schluchzen aus deiner Richtung zu mir herüber und auf eine mir unerklärliche Weise löst die Gleichmäßigkeit dieses Rhythmus in mir eine tiefe Ruhe aus.
Zwanzig Minuten zuvor lagst du neben mir auf der Matratze und hast meine Gesichtszüge mit deinem Zeigefinger nachgezogen. Leise Linien auf heißer Haut. Zwanzig Minuten zuvor habe ich mich dir lasziv entgegen gereckt und meine Lippen fest auf deine gepresst. Weil ich dir zeigen wollte, wie wichtig du mir bist. Weil ich in deiner Nähe jedes Mal von Neuem aufblühe und du mir den Raum für Zuflucht und Geborgenheit gibst. Der erste heutige Kuss, zu Beginn noch zaghaft und fast schüchtern. Der dann direkt eine ganze Flut an feurigen Küssen nach sich zog. Eng umschlungen kugelten wir auf deinem Bett umher und wollten uns nicht, ja vielleicht nie mehr, voneinander lösen.
Links an meinem Brustkorb kitzelten deine Fingerspitzen und erforschten meine Haut, auf der sich ein dünner Schweißfilm gebildet hatte. Ich spürte, wie du leicht an meinem fliederfarbenen oversized Shirt gezogen hast, sich der Stoff stückchenweise mehr nach oben schob. Dann griff deine Hand nach dem Saum deines roten Tanktops, bereit, das Oberteil mit einer fließenden Bewegung abzustreifen und auf den Boden gleiten zu lassen.
„Nein”, sagte ich bestimmt und rollte mich von dir herunter.
Tausend und ein Gedanke rasten durch meinen Kopf. Ich habe mich noch nie für eine andere Person nackig gemacht. Bisher hatte ich, und ich allein, meinen Körper berühren, bestaunen, beurteilen und bemängeln dürfen. Und jetzt bist da auf einmal du. Du, die mich nackt und schutzlos vor sich stehen, sitzen, liegen sehen möchte. Du, die mit ihren Händen meine Körper-Koordinaten neu erfinden möchte. Du, die jeden Winkel meines Wesens erkunden und erobern will.
Ich wandte mich von dir ab, richtete den Blick an die Wand und dachte nach. In Gedanken blätterte ich Schicht für Schicht meine Kleidungsstücke von mir ab. Es ist ein schwüler Tag und ich trage kaum etwas. Im Strip-Poker wäre ich gerade ganz schön aufgeschmissen, schwirrte mir in dem Moment fast lächerlich unbedeutend durch den Kopf. Mit jeder Lage Stoff, aus der ich mich mental schälte, spürte ich den potentiellen Grad meiner Verletzlichkeit anschwellen, und mein Herzschlag beschleunigte sich exponentiell. Wo sich keine Kleidung mehr befindet, zeichnen sind die Narben deutlich sichtbar ab, dachte ich mir still und meine Gedanken schwiegen daraufhin für einen Moment.
Angst. Ich habe so große Angst davor, dir zu erlauben, meine Narben zu betrachten. Heute, und morgen vermutlich auch noch. Du sagtest, du verstündest das nicht. Dass wir uns doch bereits so lange kennen würden und wir ja auch nicht miteinander schlafen müssten. Dass es mir darum überhaupt nicht ging, übersahst du einfach. Mich vor einer anderen Person nackig zu machen, ist für mich mit einem Sich-mit-sich-selbst-Konfrontieren gleichgesetzt. Nicht die kleinste Falte Stoff stünde mir dann mehr zur Verfügung, um Zuflucht zu suchen. Kein Versteckspiel, keine Maskerade, keine Mauern. Einfach pure Ehrlichkeit. Nackt wie ein Neugeborenes. Und bodenloses Vertrauen. Da hinein, dass du behutsam mit mir bist, wenn ich meine Schichten fallen lasse.
„Weißt du,” sagte ich gedämpft, „eigentlich ist das Problem weniger der tatsächliche Zustand des körperlichen Nacktseins, sondern mehr der emotionale Striptease, den ich damit für dich hinlege.” Denn meine Haut, dessen einziger Makel seit jeher der zu geringe Bräunungsgrad zu sein schien, ist glatt und weich und unversehrt. Suchend würden deine Augen meine Körperteile entlang streifen und vergeblich nach den Wülsten eines Narbengewebes Ausschau halten. Unter der Haut, in Herz und Kopf, in Brust und Bauch und auch in meinen Augen befinden sich jedoch die Widerspiegelungen meiner Risse, zutiefst sensibel und gefühlsgeladen. Ich wusste nicht, ob du das verstanden hast oder was in deinem Kopf vorging, als ich diese Worte über meine Lippen schubste. Jedenfalls standest du, nachdem mein Satz bedeutungsschwer in der Luft zwischen unseren Gesichtern hängen blieb, auf und liefst langsam durch den Raum. Bis du schließlich dort am Fenster stehen bliebst.
Du weinst noch immer. Das sehe ich daran, wie sich alle paar Sekunden dein rechter Arm hebt und du dir mit der offenen Handfläche über die tränennassen Wangen wischst. Jedoch tust du all das mittlerweile vollkommen geräuschlos. Der einzige Laut, der zu hören ist, sind die Vögel in der Ferne, deren Zwitschern sich aufdringlich und gezwungen aufmunternd durch das halbgeöffnete Fenster schiebt. Noch immer habe ich nicht den blassesten Schimmer, was dir gerade durch den Kopf geht und womit ich den gekippten Augenblick retten kann. Noch immer sitze ich einfach da, halte meinen eigenen Körper fest umschlungen und suche nach Wegen, mich dir trotz der räumlichen Trennung und der Unfähigkeit, mich meiner Kleidung zu entledigen, nahe zu fühlen.
Fünf weitere Minuten des Schweigens ziehen vorüber, bevor ich schließlich die Stille breche. Vorsichtig stupse ich eine Frage vage in deine Richtung: ‚Darf ich dir von meinen Narben erzählen?‘