LitWoch: Do you feel the sweet emotion? Der Aufbruch emotionaler Rollenzuschreibungen

Content Note: In diesem Beitrag geht es um ‚weibliche‘ und ‚männliche‘ Emotion. Ich möchte betonen, dass ich das gängige Verständnis eines binären Geschlechtersystems ablehne. Es ist jedoch sehr auffällig, dass den dominierenden Geschlechterrollen von Frauen und Männern bestimmte Emotionen zugeordnet sind. Dieser Umstand wird in diesem Artikel untersucht, ohne auf Personen jenseits des binären Systems einzugehen.


Das Radio will uns nur weinerlich und so zerbrechlich (hmm)
Rollenunterdrückung im Rundfunk öffentlich-rechtlich.
Shirin David in: Last Bitch Standing

Kaum eine Rapperin macht in Deutschland so polarisierend auf Rollenzuschreibungen in der Kunstszene aufmerksam, wie Shirin David. Laut ihr gibt die Musikbranche vor, dass ausschließlich Frauen emotionale Liebeslieder singen sollen, nicht Männer. In Last Bitch Standing verarbeitet Shirin David diesen Umstand und ist vor allem eins – wütend. Sie nimmt diese Emotion, die Frauen oft noch immer nicht zugestanden wird, und kreiert etwas, das weder „weinerlich“ noch „zerbrechlich“ ist. Stattdessen zählt sie auf, was in der Musik-, bzw. der gesamten Kunstszene schiefgeht. Unterm Strich ist das ziemlich viel.

Was ist das gesellschaftliche Problem?

Was Shirin David im Rapbusiness beobachtet, bleibt nicht auf die Musikbranche begrenzt. Verschiedenen Geschlechtern werden verschiedene Emotionen zugeordnet, die anderen nicht zugestanden werden. Das kann je nach Kultur natürlich variieren. Dennoch: wütende Frauen oder weinende Männer – wann kommen die im Alltag eigentlich vor? Ich habe darüber nachgedacht. Eingefallen ist mir sofort James Blunt, der wegen seiner emotionalen, „weinerlichen“ Musik in den Medien oft als ‚Frauenversteher‘ betitelt wird. Außerdem habe ich erst kürzlich von einer Studie gelesen, die belegt, dass Frauen, die Ärger offen zeigen, mit negativen Konsequenzen rechnen müssen. Sie werden beispielsweise vielfach nicht eingestellt. Diese beiden Punkte reichen schon aus, um das große Ungleichgewicht darin zu belegen, welche Emotionen bei welchem Geschlecht eigentlich anerkannt werden. 

Mit der ‚Natur des Menschen‘ hat das Ganze nämlich nichts zu tun. 

Biologisch gesehen können Männer und Frauen gleich viel weinen. Außerdem empfinden  alle Geschlechter einer Studie nach gleich viel Wut. Warum gibt es trotzdem diese unterschiedlichen Umgänge mit Emotionen? Der Diplompsychologe und Psychotherapeut Andreas Knuf sieht als Hauptgrund dafür die Genderrollen, mit denen Frauen und Männer erzogen werden. In der Kindheit lernen viele Jungen, wie Knuf es formuliert, „keine Memme“ zu sein und dementsprechend das Weinen zu unterdrücken, während ihr Ärger anerkannt wird. Wütende junge Mädchen hören dagegen häufig, dass sie sich zusammenreißen sollen, während ihre Tränen Anklang finden. Die Ansprüche an Emotionen von Frauen und Männern sind also verschieden. Was häufig bleibt, ist die Scham, wenn aus diesen Rollenmustern ausgebrochen wird. Diese Scham kann sich zu Angst vor Ablehnung oder davor, aus der Norm zu fallen, entwickeln.

Wie wirkt sich das auf die Literatur aus?

Bei dieser Scham muss es nicht bleiben. Dies zeigt Shirin David, die ihre Wut in Kunst umwandelt. Auch in der Literatur werden emotionale Rollenbilder immer mehr aufgebrochen. Die Darstellung weiblicher Wut oder männlicher Traurigkeit hing hier ebenfalls lange mit den bereits erwähnten Gendervorstellungen zusammen. Trotz der Tatsache, dass es im gängigen Literaturkanon einige traurige und verzweifelte männliche Figuren gibt, allen voran Goethes Faust oder Harry Haller aus Hesses Steppenwolf, so ist es doch eine ziemlich spezifische Art der Traurigkeit – die des älteren weißen cis-Mannes.

Weiblicher Ärger kam kaum vor. Wenn, dann wurde er oft sehr stereotypisch/isierend aus cis-männlicher Perspektive geschrieben. Zum Glück hat sich einiges geändert. Durch die genderkritischen Reflektionen der letzten Jahrzehnte gibt es in Literaturveröffentlichungen langsam eine Vielfalt an emotionalen Geschichten jeglichen Geschlechts, wie beispielsweise Wut und Böse von Ciani-Sophia Hoeder oder Drei Kameradinnen von Shida Bazyar. Diese Darstellungen helfen bei der Erkenntnis, dass sich weibliche Wut transformativ und bereichernd auf das eigene Leben auswirken kann, wenn sie zugelassen wird. Das gilt genauso für literarische Vorbilder weinender Männer, die sich nicht wie Faust oder Haller gerade in der Midlife-Crisis befinden. 

Sehr langsam, aber sicher gibt es einen Aufbruch emotionaler Rollenzuschreibungen in der Literatur- und Kunstszene. Harry Styles oder Lewis Capaldis emotionale Musik erfahren Erfolg, obwohl oder gerade weil sie nicht den stereotypen emotionalen Mustern entsprechen. Durch popkulturelle Personen wie Shirin David, die auf diese Umstände aufmerksam machen, werden die Problematiken für ein großes Publikum sichtbarer. Dennoch sind wir weder in der Literaturbranche noch im gesellschaftlichen Alltag an einem Punkt angekommen, an dem die gängigen Vorstellungen der Genderrollen vollkommen aufgelöst sind – Last Bitch Standing lässt grüßen.

Wie kann sich nachhaltig etwas verändern?

Meine erste Antwort auf die Frage, wie man nun mit den ganzen Informationen umgehen sollte und Veränderungen bewirken kann, sodass Texte wie aus Last Bitch Standing nicht mehr notwendig sind, lautet natürlich SMASH THE PATRIARCHY! Das scheint für mich oft die einzige wirkliche Lösung zu sein, wenn es in bestimmten Kontexten um Rollenbilder und deren Unterdrückung geht. Dass das eine sehr große Aufgabe ist und ich den Untergang des Patriarchats höchstwahrscheinlich nicht miterleben werde, ist mir bewusst. 

Vielleicht sollte ich kleiner anfangen. Bevor ich die Musik- oder Literaturszene mit ihren jahrelang ausgeübten Ungerechtigkeiten konfrontiere, kann ich mich erst einmal selbst fragen: „Leide ich unter den emotionalen Rollenzuschreibungen, die ich durch mein Geschlecht erlebe? Hat meine eigene Wut eigentlich einen Platz in meinem Leben?“ Nach reichlicher Reflektion kann ich ehrlich sagen – nein, meine Wut hat kaum Platz in mir. Das ist frustrierend, weil ich mir damit eine sehr wichtige und produktive Emotion abspreche. Ich verneine einen Teil von mir und reagiere überfordert, wenn ich Ärger in mir spüre.

An dieser Stelle kommt wohl die Literatur wieder ins Spiel. Kann ich durch Geschichten, in denen Frauen Wut artikulieren, etwas lernen? Können sie Vorbilder für mich werden? Kann ich mich durch sie besser kennenlernen? Ja, und das ist sehr wichtig für mich. In Büchern habe ich zum Beispiel durch Margarete Stokowskis Wut auf das Patriarchat und durch die Protagonistin Shida Bayzars Drei Kameradinnen Wut auf die eigene Vergangenheit und Herzschmerz neu kennengelernt. Das sind sehr wertvolle Erfahrungen, die ich durch weitere Lektüren ausbauen will.

Wenn ich im Alltag akuten Zugang zu meiner Wut suche, dann ist Shirin Davids Musik meine erste Wahl. Denn wenn ich selbst eine Veränderung sein will, ob in der Literaturwelt oder in unserer Gesellschaft, muss ich zuerst das Problem in meinem eigenen Leben angehen. Das wird nicht einfach. Wie ich mich von meinen eigenen, lang erlebten Rollenzuschreibungen in puncto Emotion löse, weiß ich noch nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das ganz funktioniert. Aber ich werde damit anfangen, indem ich darüber lese und von denjenigen lerne, die auf ihrer Reise schon ein Stück erfahrener sind. 

Lisa Skamira

Lisa ist 21 Jahre alt und studiert Deutsche Sprache und Literatur und Medienkulturwissenschaft an der Uni Köln. In ihren Canapé-Texten vereint sie gleich mehrere ihrer Leidenschaften: das Schreiben, den Feminismus und die Literatur. Ob angemessen oder nicht – für jede Situation kennt Lisa einen geeigneten Otto Waalkes-Witz.

@lisi.marie

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