LitWoch: Wie zeitgemäß ist der Women’s Prize for Fiction?

Bildquelle: Unspalsh.com

Seit 1996 würdigt der Women’s Prize for Fiction literarische Leistungen von Schriftstellerinnen. Er wird jedes Jahr einer Autorin, egal welcher Nationalität, für den besten englischsprachigen und in Großbritannien publizierten Roman verliehen und ist mit einem Preisgeld von £30.000 dotiert. Doch brauchen wir weiterhin einen Preis, der explizit weibliches Schreiben würdigt?

Was ist der Women’s Prize for Fiction?

“I want to encourage more men to read fiction by women”, sagte Mary Ann Sieghart, die diesjährige Vorsitzende der Jury des Women’s Prize for Fiction, als im Juni die in der engeren Auswahl stehenden Bücher des Preises bekannt gegeben wurden.

Mit dieser Aussage macht Sieghart auf die Misogynie aufmerksam, die weiterhin in der Welt besteht und sich deshalb auch erheblich auf die Literaturbranche auswirkt. In der ersten LitWoch-Ausgabe habe ich schon ausführlich darüber berichtet, dass Frauen und andere nicht-cis-männliche Personen im Literaturbetrieb auch heute noch vielfach diskriminiert werden. Dazu gehört zum Beispiel, dass kaum etwas für die Erinnerung verstorbener nicht-cis-männlicher Autor:innen getan wird, aktuelle Bücher dieser Autor:innen weniger rezensiert und die Themen ihrer Bücher trivialisiert werden oder dass nicht-cis-männliche Autor:innen auf ihr Aussehen reduziert werden.

Auch bei den gängigen Literaturpreisen finden sich diese Ungerechtigkeiten wieder. Unter 118 Literaturnobelpreisträger:innen finden sich gerade mal 16 Frauen. Auch der Georg-Büchner-Preis, der in Deutschland als der renommierteste Literaturpreis gilt, wurde von 71 Malen erst an 12 Frauen vergeben.

Der Women’s Prize for Fiction etablierte sich aufgrund dieser Benachteiligung. Er wurde 1996 als Reaktion auf den Booker Prize ins Leben gerufen, der zu diesem Zeitpunkt als wichtigster britischer Literaturpreis für Romane galt. Der Booker Prize nahm 1991 kein Buch einer Frau in die engere Auswahl auf, obwohl in diesem Jahr 60% der veröffentlichten Romane von Autorinnen stammten. Der Women’s Prize for Fiction, dessen Name sich im Laufe der Jahre viermal aufgrund wechselnder Sponsoren änderte (ehemals Orange Prize for Fiction, Orange Broadband Prize for Fiction und Baileys Women’s Prize for Fiction), wird jährlich vergeben, um weibliches Schreiben zu feiern. 

Die diesjährige Gewinnerin ist die amerikanisch-kanadische Autorin, Filmemacherin und Zen-Priesterin Ruth Ozeki. Als sie den Preis für ihren Roman The Book of Form and Emptiness gewann, machte sie in ihrer Dankesrede auf die Benachteiligung von weiblichen Autorinnen aufmerksam und adressierte die Frauen, die sie auf ihrem Weg unterstützt haben: „One of the things I’ve been thinking about a lot is how I would not be here without the support of women and women’s institutions. This is why this prize is so important to me.” Wie an Ruth Ozekis Rede zu sehen ist, wird im Laufe der Preisverleihung immer wieder die Bedeutung der Frauen in der Literaturszene betont. Für viele Menschen gilt der Preis deswegen als empowernd. 

Ist der Women’s Prize for Fiction sexistisch?

Seit der Etablierung des Preises entfachen aber auch immer wieder Debatten darüber, ob der Women’s Prize for Fiction aufgrund der ausschließlichen Nominierung von Frauen sexistisch sei. Diese Diskussionen werden vor allem von Männern angestoßen. 2008 forderte beispielsweise der Autor Tim Lott, dass der Women’s Prize aufgrund seiner sexistischen Struktur abgeschafft werden müsse. 

Lott behauptet hier, dass Männer wegen des Women’s Prize for Fiction Sexismus bzw. Diskriminierung erfahren. Doch tun Männer das wirklich? Die Kolumnistin und Autorin Margarete Stokowski, die vor allem für ihr feministisches Sachbuch Untenrum frei bekannt ist, sagt dazu ganz klar ‚Nein‘, da weiße cis-Männer grundsätzlich nicht durch gängige Machtstrukturen unterdrückt werden. Sie erklärt das folgendermaßen: „Wenn man aber Diskriminierung als einen Mechanismus versteht, der unterdrückte Gruppen oder Minderheiten von gesellschaftlicher Teilhabe und Gleichberechtigung fernhält, dann ist das eine Erfahrung, die Weiße und Männer als solche in dieser Welt nicht machen können. Es kann Vorurteile gegen sie geben, es kann Gewalt, Mobbing, unfaires Verhalten geben, oder Witze über sie, aber keine Diskriminierung.“ Der Women’s Prize for Fiction wäre gar nicht erst ins Leben gerufen worden, wenn sich die gängige Misogynie nicht auch auf die Literaturszene ausgewirkt hätte. Die Entwicklung des Preises ist also ein Symptom von bestehenden Machtverhältnissen, in denen nicht-cis-männliche Menschen unterdrückt werden. Etliche Buchpreise, die angeblich für alle Geschlechter zugänglich sein sollten, nominierten fast ausschließlich Männer. Dem Women’s Prize Sexismus vorzuwerfen, weil er auf Benachteiligung aufmerksam machen möchte, ist demnach nicht nur unsinnig, sondern auch unlogisch. Denn wie Margarete Stokowski zeigt, können weiße cis-Männer aufgrund etablierter Machtstrukturen generell keinen Sexismus erfahren.

Ein Preis ausschließlich für ‚Frauen‘?

Dennoch hält sich die Kritik am Women’s Prize for Fiction, sie hat sich allerdings in eine andere Richtung entwickelt. Seit der Gründung im Jahr 1996 hat sich das Verständnis für Geschlechterverhältnisse grundlegend weiterentwickelt. Es rückt immer mehr in das öffentliche Bewusstsein, dass das binäre Geschlechtersystem von ‚Mann’ und ‚Frau umstritten, wenn nicht sogar überholt ist.’ Die Kategorie ‚Frauen‘, auf die der Preis einen besonderen Wert legt, impliziert ein veraltetes Geschlechterverständnis. Es schließt Personen aus, die sich nicht mit dieser Kategorie identifizieren, aber ebenfalls Diskriminierung in der Literaturbranche erfahren. 2019 wurde zum ersten Mal die:der nicht-binäre:r Autor:in Akwaeke Emezis mit dem Roman Freshwater für den Preis nominiert. Die Jury wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Emezi nicht-binär ist und diese:r freute sich über die Nominierung. Als Emezi ein Jahr später für einen weiteren Roman nominiert werden sollte, fragte der Women’s Prize nach Emezis gesetzlich definierten Geschlecht. Emezi erachtete dieses Vorgehen als transphob und erklärte, zukünftig keine Romane mehr für den Preis einzureichen.

Die Nominierungsbedingungen des Preises gelten bis heute für alle ‚Frauen.‘ Unter einer ‚Frau‘ versteht der Preis „a cis woman, a transgender woman or anyone who is legally defined as a woman or the female sex.” 

Die Diskriminierung der Literaturbranche umfasst mehr

Sexismus in der Literaturbranche ist ein Symptom der Machtstrukturen, die seit Jahrhunderten in menschlichen Gesellschaften herrschen – die des Patriarchats. Wenn diese Strukturen aufgebrochen werden, wirkt sich das auch auf die Literaturszene aus. Doch dies muss mühsam erarbeitet werden, deshalb braucht es Zeichen, die bestehende Ungerechtigkeiten anerkennen und verändern. Der Women’s Prize for Fiction könnte so ein Zeichen sein. Um zu garantieren, dass der Preis aktuell bleibt, müssen veraltete Geschlechterschemata, wie das Konzept ‚Frau‘ über- und weitergedacht werden. Der Preis schafft es bisher nicht, neben Frauen weitere ausgegrenzte Personen in der Literaturszene hervorzuheben. Es bleibt also weiterhin Aufgabe der Leser:innen, Bücher marginalisierter Autor:innen zu kaufen und dadurch zu zeigen, dass es eine große Nachfrage für diese Literatur gibt. Es ist zwar wichtig, dass Leser:innen auf diese Weise bestehende Ausgrenzung minimieren, doch sie sollten nicht die einzige Instanz dafür sein, Ungerechtigkeiten in der Literaturszene zu überdenken – dazu haben sie in diesem System nur begrenzte Macht. Ein Preis von der Größe des Women’s Prize for Fiction hat dagegen durch seine Öffentlichkeitswirkung bemerkenswerte Möglichkeiten. Wenn er sich an alle marginalisierten Personen in der Literaturszene richtet, kann dies ein Schritt dazu sein, Ausgrenzung in der Literaturbranche nachhaltig aufzulösen und sie für alle zugänglicher zu machen. 
Ziel des Women’s Prize for Fiction war und ist es, marginalisierten Stimmen Gehör zu verschaffen und sie in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Der Name des Women’s Prize for Fiction hat sich seit seiner Gründung viermal geändert – warum sollten es nicht auch seine Teilnahmebedingungen tun? Schließlich würde damit genau das erreicht, was von Anfang an das Ziel war – denjenigen Aufmerksamkeit zu schenken, die sie aufgrund noch immer bestehender ungerechter Strukturen nicht bekommen.

Lisa Skamira

Lisa ist 21 Jahre alt und studiert Deutsche Sprache und Literatur und Medienkulturwissenschaft an der Uni Köln. In ihren Canapé-Texten vereint sie gleich mehrere ihrer Leidenschaften: das Schreiben, den Feminismus und die Literatur. Ob angemessen oder nicht – für jede Situation kennt Lisa einen geeigneten Otto Waalkes-Witz.

@lisi.marie

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