LitWoch: Dass Literatur oftmals provoziert und aneckt, ist nichts Neues. Aber was darf Literatur eigentlich? Hat sie Grenzen? Und wenn ja, wo liegen diese überhaupt?
Es gibt Bücher, die uns fesseln. Nicht nur in der Hinsicht, dass man ein Buch nicht aus der Hand legen und es kaum erwarten kann, weiterzulesen. „Fesseln“ in dem Verständnis, dass man – trotz ein- oder zweimaligen Lesens – auch noch Wochen und Monate danach über das Werk nachdenkt. Bei mir war dieses Buch „Der Tod in Venedig“. Wahrscheinlich ist es nur dieser eine Satz, der mich so daran beeindruckt. Thomas Mann beschreibt darin, wie sein Protagonist Gustav von Aschenbach den Sonnenaufgang in Venedig erlebt:
„Angestrahlt von der Pracht Gottes saß der Einsam-Wache, er schloss die Augen und ließ von der Glorie seine Lider küssen.“
Vielleicht einer der schönsten Sätze der deutschen Literatur.
Der Inhalt einmal stark verkürzt und überspitzt dargestellt: Gustav von Aschenbach, 50 Jahre alt, Schriftsteller, verliebt sich in Venedig in den 14-jährigen Tadzio, stellt ihm nach und belästigt ihn (natürlich unter dem Motiv der „großen Liebe”). Als wir im Deutschunterricht das erste Mal von dem Werk hörten, hatten meine Mitschüler:innen und ich uns in einem Anfall einer alles umfassenden Anti-Haltung vorgenommen, nichts Gutes daran zu finden. Unser Standpunkt: Dieses Werk gehört verboten und endlich einmal richtig auseinandergenommen (dafür wären wir natürlich am besten geeignet gewesen).
Zwei Jahre und ein halbes Germanistik-Studium später bin ich zwar erwachsener geworden, „Der Tod in Venedig“ beschäftigt mich aber noch immer. Darf der Umstand, dass ein Erwachsener einen 14-Jährigen (ein Kind!) offensichtlich belästigt, als Mittel zur stilistischen Ausgestaltung der Geschichte einfach überlesen werden? Ist Aschenbachs Obsession mit Tadzio noch die Verehrung der männlichen Juvenilität als antike Ästhetik oder schon Pädophilie? Darf die Literatur das einfach unkommentiert darstellen? Und wo sind überhaupt die Grenzen der Literatur?
Am einfachsten wäre es wahrscheinlich, die Grenzen der Literatur mit den Grenzen des Gesetzes gleichzusetzen. Es gäbe dann einen klar definierten Rahmen für das, was Literatur darf und was nicht. Das Problem dabei: Die meisten Werke müssten entweder komplett überarbeitet oder zensiert werden – und das fängt schon bei einem der ältesten Bücher der Menschheit an. Bereits im ersten Buch der Bibel erschlägt Kain seinen Bruder Abel im Affekt; das wäre Totschlag, somit strafbar und ein Grund zur Zensur. Die Bibel zensieren? Nein, so funktioniert das nicht.
Hinzu kommt, dass sich Gesetze weltweit unterscheiden. Man müsste also jedes Werk für jede Gesetzeslage extra anpassen. Und was ist mit den Werken, deren Inhalt früher gesetzeskonform war, heute aber nicht mehr? Das hier kann schonmal keine Lösung sein, es führt alles zu weit und am Ziel vorbei.
Oder hören die Grenzen der Literatur am Empfinden der Anderen auf? Empfinden ist immer subjektiv, es kommt also immer auf die:den Einzelne:n an, wie Literatur aufgefasst wird. Einheitliche Regelungen aufzustellen funktioniert also auch nicht.
Ich zerbreche mir den Kopf. Aber egal, wie ich es drehe und wende, ich komme zu keinem Ergebnis. Denn wenn wir mal davon absehen, dass es logistisch einen unfassbar großen Aufwand machen würde, schon bestehende Werke auf ihre Vereinbarkeit mit einem der beiden genannten Vorschläge zu prüfen – wir sprechen hier ganz klar von Zensur. Und die lehnen wir aus gutem Grund ab. Zudem ist Literatur in Deutschland von der Kunst- und Meinungsfreiheit gedeckt und wird durch Artikel 5 GG geregelt. Das heißt: rassistische, antisemitische oder jugendgefährdende Inhalte werden zensiert, ansonsten haben Schriftsteller:innen freie Hand.
Ein Buch zu verbieten, nur weil der Inhalt teilweise als provokant oder anstößig aufgefasst wird, ist nicht nur widersprüchlich zu den Ansprüchen einer pluralistischen Demokratie wie Deutschland, sondern auch zu den eigentlichen Aufgaben von Literatur. Sie unterhält uns nicht nur, sie war und ist auch immer Kritikerin und Provokateurin und hält uns den Spiegel vor.
Diese Debatte ist unglaublich schwer zu führen. Ich schreibe und schreibe und komme zu keinem Ergebnis. Insgeheim frage ich mich, ob es meinen Dozent:innen an der Uni anders gehen würde.
Die Grenzen der Literatur sind schwer zu fassen. Nicht einmal die Wissenschaft ist sich einig, wie genau man Literatur definiert. In meinem Studium habe ich gelernt: Literatur ist immer mit den kulturellen und sozialen Umständen verbunden, unter denen sie entsteht. Was als Literatur bezeichnet wird, hängt also immer davon ab, wie Literatur gerade definiert wird.
Klingt komisch, ist aber so.
Also versuche ich, meine ursprüngliche Frage umzuformulieren: Wie gehen wir am besten mit der scheinbaren Grenzenlosigkeit um?
Dass Literatur provoziert oder als „nicht literaturfähig“ empfunden wird, ist ja wirklich nichts Neues. Schon die Uraufführung von Schillers „Die Räuber“ wurde 1782 zum Skandal – ein Augenzeuge beschrieb die Reaktionen des Publikums als „Auflösung“ und „Chaos“. Literatur ist zudem auch immer rezpient:innenabhänig. Welche Gefühle ausgelöst werden, was sagbar ist und was nicht, das kommt auch immer auf das subjektive Empfinden an. Und erst dadurch wird doch auch die große Vielfalt möglich, die Literatur bietet: Jede:n bewegt etwas anderes an einem Buch, jede:r kann sich und seine Gedanken zwischen den Zeilen wiederfinden – Literatur schreibt uns keine Welt vor. Warum sollten wir ihr dann etwas vorschreiben?
Eigentlich muss Literatur ja auch niemandem gefallen. Die Zeiten, in denen Schriftsteller:innen für Prestige oder eine besonders gute Selbstdarstellung geschrieben haben, sind vorbei. Das Schriftsteller:innenideal des Poststrukturalismus schreibt um des Schreibens Willen, gibt sich für das eigene Werk auf. Ob uns ein Buch gefällt oder nicht, ist also nicht das Problem der:des Autor:in, sondern höchstens unser eigenes. Unbequem zu sein hat in jedem Fall seine Berechtigung. Literatur soll ja nicht um jeden Preis unterhalten. Schon immer haben Schriftsteller:innen ihre Werke unter anderem genutzt, um gesellschaftliche Missstände anzuprangern und ja- auch, um zu provozieren. Wie beispielsweise Georg Büchner, der in seinem Dramenfragment „Woyzeck” 1837 ohne irgendeine Beschönigung die Demütigung und Unterdrückung seines Protagonisten durch die Gesellschaft darstellt. Büchner musste übrigens aufgrund seines politischen Engagements mit gerade einmal 22 Jahren aus Deutschland fliehen und schrieb im Exil weiter – die „angry youth” gab es damals auch schon.
Oder Charlotte Roche, die mit ihren kontroversen Romanen einen sexpositiven Feminismus vertritt. Auch hier wurde die Frage gestellt: Ist das überhaupt Literatur? Marcel Reich-Ranicki bezeichnete ihren ersten Roman „Feuchtgebiete” als „literarisch wertlos”, andererseits wird das Buch von Feminist:innen für seine Bodypositivity und Sexpositivität gefeiert. Provokation für die Revolution sozusagen.
Ich glaube, schlussendlich kommt es darauf an, was man selbst aus Literatur macht und wie man mit kontroversen und provozierenden Stellen umgeht. Literatur besteht ja eben nicht nur aus der Handlung (sonst würde es auch eine Wikipedia-Zusammenfassung tun), sondern auch aus einem kunstvollen Umgang mit Sprache. Es ist das eine, ein Buch zu lesen mit dem Augenmerk auf die schöne stilistische Ausgestaltung. Das andere ist, den Inhalt während des Lesens zu reflektieren und sich Gedanken darüber zu machen. Nicht in dem Sinne „Was will die:der Autor:in mir damit sagen?”, eher nach dem Motto „Was kann ich daraus lernen?” Der Inhalt kann uns gefallen, er kann uns abstoßen, er kann uns zum Nachdenken anregen – was wir damit machen, ist uns aber selbst überlassen.
Die gesellschaftliche Reaktion auf ein Werk ist immer ein Spiegel des aktuellen Zustandes einer Gesellschaft. Ob ein Buch besonders kritisiert oder gelobt wird, zeigt immer, welcher Wertekanon, welche Emotionen, welche moralischen Standards gerade die Gesellschaft bewegen. Es gibt also keine „richtige” oder „falsche” Auffassung eines Werkes – sie hängt, genau wie die Definition von Literatur selbst, immer von der Zeit ab, in der wir gerade leben. Wenn Thomas Mann beschreibt, wie Gustav von Aschenbach sich von Tadzio angezogen fühlt, soll damit auf keinen Fall Pädophilie gutgeheißen oder legitimiert werden – wenn wir im Jahr 2022 die Novelle lesen, im Hinterkopf die Missbrauchsfälle, die in den letzten Jahren ans Licht kamen – dann ist es verständlich, dass wir vielleicht einen anderen Eindruck bekommen.
Was bleibt abschließend zu sagen? Ich fürchte nicht viel. Ich habe gehofft, Antworten zu finden – und bin kläglich gescheitert. Vielleicht steht aber fest, dass es mit der Literatur ist wie mit so vielen anderen Bereichen der Kunst: Wir suchen immer nach allgemein gültigen Antworten; wir versuchen, uns die Dinge so hinzubiegen, dass sie uns passen. Und kommen schlussendlich zu keinem Ergebnis. Literatur kann man also nicht in „sagbar“ und „nicht sagbar“ einteilen. Vielleicht hätte es uns damals geholfen, offen darüber zu sprechen, was uns am „Tod in Venedig” gestört hat, anstatt uns Grabenkämpfe mit unserer Lehrkraft zu liefern. Wir hätten weniger über die Daseinsberechtigung des Werkes diskutieren als über den richtigen Umgang damit reden sollen:
Ja, hier ist einiges höchst problematisch und kontrovers. Ja, jede inhaltliche Kritik ist angebracht. Aber das Werk ist nunmal da und jetzt müssen wir überlegen, wie wir damit umgehen.