LitWoch: Warum lesen wir?

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We don’t read and write poetry because it’s cute. We read and write poetry because we are members of the human race. And the human race is filled with passion. And medicine, law, business, engineering, these are noble pursuits and necessary to sustain life. But poetry, beauty, romance, love, these are what we stay alive for.

Wenn mich jemand fragt, warum das Lesen meine Leidenschaft ist, fällt mir keine bessere Antwort ein als dieses Zitat von John Keating, dem Englischlehrer aus dem Film Dead Poets Society. In meinem Leben spielt Literatur eine große Rolle. Deshalb wollte ich mich noch intensiver damit beschäftigen und habe mich vor zwei Jahren für ein Germanistikstudium entschieden. Ich befinde mich dabei oft in Sälen voller Menschen, die das gleiche Buch gelesen haben und darüber diskutieren. Immer wieder frage ich mich: „Warum sitzen all diese Menschen wohl hier? Welche Verbindung teilen sie zur Literatur? Warum lesen wir alle überhaupt?“ Deshalb habe ich mich mit einigen Kommiliton:innen und anderen Leseliebhaber:innen unterhalten, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen.

Parallelversionen der eigenen Probleme

Meine ehemalige Kommilitonin Lisa hat in Köln Deutsche Sprache und Literatur und Erziehungswissenschaften studiert. Ihre Liebe zur Literatur beschreibt sie so: „Für mich ist Literatur so wertvoll, weil sie mir ermöglicht, dass ich nicht nur in andere Länder oder in eine andere Kultur einreisen kann, sondern dass sie mein Denkspektrum erweitert. Durch das, was andere Menschen gedacht haben, kann ich selbst auf neue Gedanken kommen, die entweder in dem Text stehen oder die sich über die Brücke des Texts bei mir ergeben.“ Außerdem erklärt sie, dass diese Gedanken ihr auch in einem praktischen Sinne sehr helfen können:  „Ich habe ein Problem und lese einen Text. Aus irgendeinem Grund hilft es mir, diese Parallelversion von meinem Problem, welches der Schreiberin oder dem Schreiber gar nicht bewusst war, zu analogisieren. Meinen Knoten löse dadurch, dass in dem Text ein anderes Problem gelöst wurde. Das erfahre ich auch im Zusammenhang mit Kindern. Es ermöglicht eine Art Resilienz, weil du in den Geschichten mit dem konfrontiert wirst, was dir auch im echten Leben passieren kann. Dadurch hat man im eigenen Leben einen extremen Mehrwert und kann Lösungswege finden, die man nicht unbedingt in jedem Familienverhältnis vorgelebt oder in der Schule oder Gesellschaft beigebracht bekommt.“ Damit kann ich mich total identifizieren. Nicht nur in Sachbüchern, sondern auch in Geschichten entdecke ich oft unerwartet Antworten auf Fragen und Probleme.

Grenzüberschreitungen der eigenen Identität

Auch bei dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Günter Blamberger der Universität zu Köln hat die Liebe zum Lesen in Kinderjahren angefangen. Auf die Frage, warum er gerne liest, antwortet er:  „Als Kind, weil ich mir den weiten Atem von Mogli oder Tom Sawyer leihen wollte, wenn es mir in der Schule oder in der Familie zu eng wurde. Vielleicht hat meine Töchter deshalb auch Harry Potter so fasziniert; jeder Band war ein neuer Anlass, ihr Wissen über Zaubersprüche, die die Welt verwandeln können, mit anderen Eingeweihten zu teilen.“

Prof. Dr. Blambergers Liebe zum Lesen wuchs seit seiner Kindheit weiter, weswegen er seine Literaturfaszination zum Beruf machte. Er arbeitete über 40 Jahre als Literaturdozent und ist zudem der Begründer des internationalen Literaturfestivals Poetica. In seiner Lehre setzt er einen gewissen Schwerpunkt auf Überschreitungen, wie er erläutert: „Auch als Literaturwissenschaftler ging und geht es mir immer darum, anderen Leser:innen (und mir selbst) Grenzüberschreitungen der eigenen Identität, der eigenen Zeit, der eigenen Kultur zu vermitteln und damit das Bewusstsein für gänzlich andere Vermessungen der Welt. Literaturwissenschaftler:innen teilen ja nicht nur die Machart von Literatur mit, sondern auch das den literarischen Werken eingeschriebene Wissen, das sich nicht nur auf Begriffliches bezieht, wie in den Wissenschaften, sondern auch auf innere wie äußere Erfahrungen, die sich schwer auf Begriffe bringen, aber doch versinnlichen lassen.“

Diese Versinnlichung, von der Prof. Dr. Blamberger spricht, begeistert auch Clara, eine leidenschaftliche Leserin aus dem Canapé-Team. Sie erzählt, dass sie durch Bücher Halt und Trost findet: „Ich lese vor allem, weil ich die größten Erkenntnisse und schöne Momente hatte, während ich gelesen habe. Ich habe nicht nur das Gefühl, dass sich all das menschliche Wissen in Büchern sammelt. Das Lesen gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein mit der Emotion, die ich gerade habe. Es gibt mindestens eine Person, die schon einmal genau das empfunden und genau das gedacht hat.“

Geschichten der Menschheitsgeschichte

Meine Perspektive auf unser Verhältnis zum Lesen wächst außerdem durch meine Kommilitonin Johanna, die ihren Studienschwerpunkt auf Mittelalterliteratur setzt. Dies findet man in unserem Germanistikstudium nicht allzu häufig. Doch als sie davon berichtet, ergibt sich ein Literaturbild, welches selbst die Zeit vor dem Mittelalter mit der Zukunft verknüpft:

„Wir haben es hier mit einer Kunst zu tun, die unglaublich alt ist. Bevor es eine geschriebene Sprache gab, bevor wir irgendwelche Höhlenbilder gemalt haben, haben wir uns Geschichten erzählt. Es ist so inhärent in den Menschen verankert, dass wir Geschichten erzählen wollen, dass wir uns einander mitteilen wollen – das ergreift mich auf eine sehr emotionale Art und Weise. Ich lese nicht nur die Geschichte von diesem Autor, sondern lese in einem größeren Konzept, das mich Teil einer größeren Menschheitsgeschichte werden lässt. Ich mag die ältere deutsche Literatur so sehr, weil diese Geschichten, die wir dort lesen können und von den Menschen, von denen uns erzählt wird, beweisen, dass wir nie anders waren. Wir waren immer gleich. Wir waren immer Menschen. Wir haben es immer geliebt, Geschichten zu hören. Die Figuren, die in diesen Geschichten auftreten, sind genauso Helden und Menschen, die Fehler machen, wie wir heute in Geschichten Helden haben und Menschen, die Fehler machen. Das begeistert mich einfach, dass das Lesen und Geschichten erzählen Sache sind, die über den Kontext meiner selbst hinaus einen ganz großen Kreis in der Menschheitsgeschichte schließen. Sie verbinden mich mit allen anderen Menschen, die gern Geschichten hören und erzählen und das ist etwas, was wahrscheinlich Jahrtausende noch überdauert. Johannas Beschreibungen ergreifen mich. Ich finde in ihnen die Liebe zu Geschichten wieder, die mir auch der zu Beginn zitierte John Keating vermittelt.

Gibt es die eine Antwort?

Die Wahrnehmung von Literatur ist unfassbar facettenreich. In den Gesprächen sticht vor allem die Tatsache hervor, dass Bücher, Geschichten und damit die Literatur uns auf eine sehr intime Art und Weise das Gefühl geben, nicht allein zu sein. Literatur bietet die Möglichkeit, Problemen zeitweilig zu entkommen oder sie zu lösen und Gefühle einzuordnen oder neu entdecken zu können. Leser:innen reihen sich damit in eine Tradition ein, die wohl genau deswegen seit Jahrtausenden besteht.

Das kürzeste Gedicht der Weltliteratur, auf das mich Prof. Dr. Blamberger aufmerksam machte, fasst die Erkenntnisse aus den Gesprächen zusammen. Es stammt von Giuseppe Ungaretti und verhandelt sehr minimalistisch das Maximale, was Literatur verspricht: „M’illumino/d’dimmenso“ – „Ich erleuchte mich/Durch Unermessliches.“

Lisa Skamira

Lisa ist 21 Jahre alt und studiert Deutsche Sprache und Literatur und Medienkulturwissenschaft an der Uni Köln. In ihren Canapé-Texten vereint sie gleich mehrere ihrer Leidenschaften: das Schreiben, den Feminismus und die Literatur. Ob angemessen oder nicht – für jede Situation kennt Lisa einen geeigneten Otto Waalkes-Witz.

@lisi.marie

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