Von außen wirken Politiker:innen oft wie funktionierende Roboter. Den ganzen Tag in Konferenzen sitzen, bis spät in die Nacht arbeiten und nie Zeit für einen Mittagsschlaf, Spontanität oder eine lange Nacht in einer Bar haben. Aber stimmt das? Und ist es überhaupt so gut für unsere Demokratie, wenn politische Entscheidungsträger:innen dauerhaft überarbeitet sind?
Vor ein paar Wochen war ich mit der Uni auf Exkursion in Brüssel. Ein paar Tage lang sind wir durchs europäische Regierungsviertel gelaufen und haben mit Menschen gesprochen, die für die Kommission, das Parlament oder den Ministerrat arbeiten. Ein Thema war in jedem Gebäude, auf jedem Flur, in all den Konferenzräumen omnipräsent: und zwar die enorme Arbeitsbelastung von den Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten. Ich erinnere mich noch gut an einen Mitarbeiter des Ministerrates, der schon beinahe salopp erzählte, dass sie ihre Mitarbeitenden mittlerweile in drei Kategorien einteilen: Pre-Burnout, Burnout und Post-Burnout. Mich hat das echt schockiert – besonders die Tatsache, dass scheinbar allen bewusst ist, dass die Arbeitsstrukturen innerhalb dieser Institutionen offenbar krank machen.
Aber ist das in allen politischen Institutionen so?
Eine Datenanalyse der Süddeutschen Zeitung zeigt: im deutschen Bundestag sind die durchschnittlichen Arbeitszeiten sehr hoch. Laut dieser arbeiten mehr als 90 Prozent aller Bundestagsabgeordneten 55 Stunden oder mehr die Woche. Fast die Hälfte arbeiten wöchentlich mehr als 70 Stunden. Der bundesdeutsche Durchschnitt liegt im Vergleich dazu bei etwa 40 Stunden die Woche. Dass Politiker:innen viel arbeiten und damit über die eigene Belastungsgrenze gehen, scheint also zum politischen Betrieb dazuzugehören. Und der eigenen Glaubwürdigkeit, dass man es mit den politischen Zielen ernst meint, schaden lange Arbeitstage auch nicht. Schließlich lässt sich danach viel einfacher sagen, dass man wirklich alles versucht hat, die eigenen Interessen durchzusetzen.
Außerdem bleibt die Welt nicht stehen und achtet darauf, dass politische Entscheidungsträger:innen nicht mehr als 8 Stunden am Tag arbeiten. Den ganzen Tag passieren neue Dinge, auf die reagiert werden muss. Und das nicht selten auch mitten in der Nacht. Die Merkel-Biografin Evelyne Roll schreibt zum Beispiel über Angela Merkel, dass es die Fähigkeit, besonders lange in der Nacht durchzuhalten, sei, die sie zur Spitzenpolitikerin qualifiziere.
Ist lange durchhalten also eine “Kompetenz” die man mitbringen muss um in der Politik zu bestehen?
Über diese Frage habe ich mit einer Psychologin gesprochen, die für diesen Text nicht namentlich genannt werden möchte. Chronischer Schlafmangel ist beispielsweise ein Anzeichen für einen Burnout. Sie beschreibt Burnout als einen schleichenden Prozess, der häufig erst auffällt, wenn man schon ans Limit seiner Kräfte gekommen ist. Wenig Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und kaum Ausgleich können die Wahrscheinlichkeit steigern, einen Burnout zu entwickeln. Wenn die Arbeit also keinen Raum lässt, Stress abzubauen, befindet sich der Körper im Dauerstress. Darauf ist er nicht ausgelegt. Wenn man das liest, erscheint es in meinen Augen irgendwie logisch, dass so viele Menschen in politischen Ämtern Gefahr laufen, an einem Burnout zu erkranken.
Natürlich ist Stress im Job kein Alleinstellungsmerkmal von Politiker:innen. Laut einer aktuellen Gallup-Studie fühlen sich so viele Menschen durch ihren Job gestresst wie noch nie. Stressige Berufe sind also ein gesellschaftliches Problem. Wenn politische Entscheidungsträger:innen im Dauerstress sind, kommt noch die Problematik hinzu, dass es uns alle auf eine Art betrifft. Schließlich treffen sie Entscheidungen, die unser aller Leben beeinflussen und dafür ist ein klares Urteilsvermögen unverzichtbar.
Was können wir daraus also lernen?
Ich habe bei der Recherche den Eindruck gewonnen, dass ein offener Umgang mit Arbeitsbelastungen von Politiker:innen nicht üblich ist. Psychische Probleme, insbesondere bei Abgeordneten, stoßen in unserer Gesellschaft auf wenig Verständnis. Bis heute gibt es kaum Politiker:innen, die sich offen zu ihrem Burnout bekannt haben. Vielleicht erinnert sich noch jemand an Sahra Wagenknecht. Sie ist eine der Einzigen in einem wichtigen politischen Amt, die ihren Burnout öffentlich gemacht hat. Und vielleicht ist das ein Punkt, an dem wir uns mal an unsere eigene Nase fassen müssen und unser Bild von Politiker:innen als funktionierende Roboter hinterfragen sollten. Denn Arbeitsbelastung sollte kein Tabuthema sein. Besonders nicht in einer Demokratie, in der wir alle davon profitieren, fitte, motiviert Menschen in politischen Ämtern zu haben, die einen offenen Blick für die Probleme unserer Zeit haben.
Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, politische Entscheidungsträger:innen an Arbeitsüberlastung zu verlieren
Es ist ein Thema mit vielen verschiedenen Facetten. Denn natürlich schläft die Welt nicht und keine Krise wartet darauf, dass Entscheidungsträger:innen ausgeschlafen sind und ihr Arbeitspensum nicht überreizen. Aber: es ist an der Zeit zu fragen, was für Politiker:innen wir brauchen und wollen. Wenn wir nur Menschen in politischen Ämtern akzeptieren, die neben der Arbeit kein Privatleben und keine anderen Verpflichtungen haben und die dem dauerhaften Druck und der Arbeitsüberlastung standhalten, werden immer weiter nur die gleichen Menschen wichtige politische Ämter innehaben. Vielleicht ist die Zeit gekommen, über neue Formen der politischen Arbeit nachzudenken. Zum Beispiel über Arbeitsmodelle, die nicht auf einzelne Personen abzielen und ihnen Verantwortungen überlassen, sondern Verantwortungen verteilen. Damit mehrere Schultern all die politischen Entscheidungen dieser Zeit mittragen.