„Es ist ein Stigma, dass man im Armutskreis anonym bleibt und nicht offen darüber reden kann.“

Geld, Zahltag, Münzen
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In unserer Reihe „Zahltag – über Geld spricht man (nicht)“ packen unsere Interviewgäst:innen jeden Monat intime Details aus ihrem Portemonnaie aus und lassen tief ins Konto blicken. Diesmal hat Eusebius uns von seiner prekären finanziellen Situation erzählt, wie er und seine Mutter versuchen sich über Wasser zu halten und was das Ganze eigentlich emotional mit ihm macht.


Fantasiename: Eusebius

Alter: 19 Jahre

Geschlecht: männlich 

Tätigkeit: FSJler im Verwaltungsbereich


Was ist deine Geldquelle? 

Vom FSJ bekomme ich ein Taschengeld, und keine Entlohnung, da es eine spezielle Arbeits- und Beschäftigungsform ist. Mein Taschengeld beträgt 420 Euro pro Monat. Außerdem bekomme ich 219 Euro Kindergeld. Ansonsten beziehe ich noch Arbeitslosengeld II. Vom Gesamtbeitragssatz wird jeweils das Kindergeld und Gehalt abgezogen bis zu einem bestimmten Freibetrag von 250 Euro. Ich behalte nur die Hälfte vom Beitragssatz, da ich mit meiner Mutter in einer Bedarfsgemeinschaft lebe. Die andere Hälfte wird zum Haushalt beigetragen. 

Wie viele Stunden arbeitest du in der Woche (im FSJ)?

Mein Arbeitsvertrag schreibt 39 Stunden pro Woche vor. Es wird allerdings relativ kulant behandelt, da meine Mittagspause in die Arbeitszeit eingerechnet wird. Effektiv arbeite ich normalerweise sieben Stunden am Tag.

Wie viel Geld ist jetzt gerade auf deinem Konto?

Ich habe mehrere Konten, meine Situation ist aber auch besonders. Laut meiner eigenen Buchhaltung habe ich ungefähr 4000 Euro. Die Situation ist aber:  3300 Euro davon schulden mir meine Geschwister. Meine Schwester studiert, ihr habe ich 2800 Euro geliehen, als ein Antrag nicht durchging und sie wegen Corona ihren Job verloren hat. Mein Bruder ist zwar erwerbstätig, aber auch meist knapp bei Kasse und schuldet mir 500 Euro. Für mich selbst habe ich also aktuell 700 Euro.

Und das hast du dir mit Jobs selbst angespart, das Geld?

Genau. Das FSJ ist meine erste Erwerbstätigkeit. Ansonsten beziehe ich ja noch Arbeitslosengeld.

Was ist dein monatliches Netto-Einkommen, wenn du das zusammen rechnest?

Durch mein FSJ erhalte ich 420 Euro plus das Taschengeld von 150 Euro. Für Sozialleistungen zahlt mir die Arbeitsagentur 281,46 Euro. Monatlich habe ich dadurch 751,46 Euro.

Bist du damit zufrieden, was pro Monat übrig bleibt? 

Ich bin nicht zufrieden mit dem aktuellen Betrag, da davon meist nicht viel übrig bleibt. Ich muss davon die Hälfte monatlich an den Haushalt beisteuern und zahle mit dem Rest meine Fixkosten. Da kann kaum etwas gespart werden. 

Wie viel hättest du gern in deiner aktuellen Lage?

Zum Leben reicht mir das Geld aktuell noch, man kann sich aber nichts für die Zukunft aufbauen oder einen Notgroschen ansparen, um sich abzusichern. Ich hätte gerade gerne mindestens 1000 Euro Einkommen im Monat, damit ich mir vielleicht etwas aufbauen könnte und eine finanzielle Sicherheit hätte. Damit wäre ich zufrieden. Trotzdem würde ich aber vermutlich weiter sparsam sein, meinen Konsum nicht großartig verändern, weil ich generell der Typ dazu bin.

Inwieweit fühlst du dich finanziell sicher? Ist Geld ein Stressfaktor für dich?

Geld stresst mich persönlich schon, weil meine Einkommensquellen nicht abgesichert sind. Ich muss mich ständig um Bewerbungen, Anträge, Einsprüche und andere Formulare kümmern. Der Verwaltungsaufwand allein ist für mich sehr stressig. Die Bürokratie in Deutschland ist einfach sehr anspruchsvoll und der Sozialstaat alles andere als sozial, was einfach paradox ist. Ich fühle mich nicht als Mensch gewürdigt, wenn ich so für diese Leistungen kämpfen muss, um ein halbwegs billiges Leben führen zu können. Das stresst mich vor allem. Ich muss immer gut haushalten. Hätte ich mehr Geld, wäre mein Leben definitiv einfacher, stress- und sorgenfreier. 

Wie viel Zeit nimmt diese ganze bürokratische Arbeit in Anspruch? Wie sieht das in deinem Alltag aus?

Meine Mutter hat eine generelle Sprachbarriere und eine psychische Erkrankung, wodurch sie sich seit vier Jahren nicht mehr um Anträge kümmern kann. Deshalb mache ich das alles seit ich 16 bin. Es ist immer irgendwas, was zu tun ist und reinkommt. Damit die Finanzierung weitergeht, muss ich regelmäßig Einkommensnachweise und ähnliches einreichen. Zu den Bescheiden kommen ganz häufig Nachfragen, die beantwortet werden müssen. Meistens werden Kontoauszüge überprüft – jegliche Überweisungen und alles an Einkommen wird hinterfragt und muss von mir begründet werden. Wenn ich dann den Bescheid erhalte, bin ich sehr penibel bei der Kontrolle, wenn es darum geht, was ich an Geld erhalte, damit nichts unfair berechnet wird. Manchmal muss ich dazu extra Einsprüche stellen – einfach ein großer Verwaltungsakt.

Aber ich mache das alles, um es nicht über mich ergehen zu lassen, falls etwas mal ungerecht berechnet oder nicht beachtet wurde. Auch das Kindergeld ist immer noch viel Aufwand, weil immer wieder die Verhältnisse der Eltern überprüft werden. Das ist zusätzlich schwierig,  weil meine Eltern geschieden sind und ich beide extra um Dinge bitten muss – immer ein Hin und Her. 

Ich würde sagen jedes oder jedes zweite Wochenende, abhängig von der Menge der Anträge, beschäftige ich mich damit etwa zwei Stunden. Es kann aber auch sein, dass ich für eine Sache einen halben Tag brauche.

Wie hast du das gelernt?

Ich bin damit aufgewachsen, da ich meinen Eltern immer helfen musste. Sie können beide nicht wirklich gut Deutsch. Ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen und konnte es mir selbst beibringen, mich mit Behörden zurechtzufinden. Da ich selbst auch in der Verwaltung arbeite, bin ich dafür vielleicht auch irgendwie prädestiniert. (lacht)

Inwieweit vergleichst du deine finanzielle Situation mit der anderer?

Ich denke nicht viel darüber nach, wie es anderen finanziell geht. Auch einfach, weil in meinem Alter und in der Schulzeit nicht über sozialen Status und Geld geredet wird – vielleicht kommt das erst im Erwachsenenalter. Aber jetzt im Nachhinein ist mir schon bewusst, welche Vorteile andere durch ihren besseren sozialen Status haben. 

Heute habe ich ein paar Freunde, mit denen ich über Geld rede, und da entsteht schon ein Vergleich. Persönlich glaube ich nicht, dass man mir ansieht, dass ich zu einer einkommensschwächeren Schicht gehöre, und ich habe eben auch nicht darüber geredet. Aber natürlich vergleiche ich irgendwie immer wieder die Unterscheide zwischen mir und anderen.  

Wie viel willst du mal in 10 Jahren verdienen?

Ich wollte schon immer Informatik studieren – ein Kindheitstraum. Nicht des Geldes wegen, sondern weil es mich interessiert. Das Gehalt, das man damit potentiell verdienen kann, ist natürlich ein schöner Nebeneffekt. Meine Geschwister sind beide in naturwissenschaftlichen Feldern tätig. Ich glaube, diesen Weg haben sie beide auch eingeschlagen, weil es sehr naheliegend ist, dass man in diesem Feld einen gut bezahlten Beruf ergreifen kann.

Und auch ich würde schon gern überdurchschnittlich viel verdienen wollen, um das Gefühl von finanzieller Sicherheit zu haben. Das ist einfach ein klares Ziel von mir. Gerade kann ich mir das nur schwer vorstellen. Aber es wäre schön, wenn ich dieses Gefühl von Sicherheit mal hätte. Aber wenn mir so durch den Kopf geht, dass es für eine einkommensschwache Familie teilweise sechs Generationen braucht, um in eine durchschnittliche Schicht aufzusteigen, bedrückt mich das auf der einen Seite schon. Auf der anderen Seite motiviert es mich aber auch und treibt mich an, ein überdurchschnittliches Gehalt zu verdienen.

Du sagst über dem Durchschnitt, hast du da eine konkrete Summe im Kopf?

Nein, nicht wirklich. Im Bereich Informatik hat man aber generell  gute Gehalts- und Aufstiegschancen. Zwischen 7.500 – 10.000 Euro sind teilweise schon als Einstiegsgehalt möglich, was schon verrückt ist. Das würde ich nicht unbedingt am Anfang erwarten, aber es wäre ein Ziel für mich. 

Wie war deine finanzielle Situation in deiner Kindheit? War sie schon ähnlich wie jetzt? 

Eigentlich leben meine Familie und seit ich denken kann in dieser prekären Lage. Meine Mutter hat sich vor meiner Geburt scheiden lassen, ist seitdem alleinerziehend und kümmert sich allein um die Kinder. Sie hat keine Ausbildung, die in Deutschland anerkannt wird, und hat sich meistens mit Reinigungs- oder Minijobs durchgeschlagen. Eine alleinerziehende Mutter ohne die Unterstützung eines Partners, der auch finanziell etwas beitragen könnte, ist ein sehr großer Faktor für Armut. Und so leben wir wie gesagt, seit ich denken kann. Als ich 16 war, kam zusätzlich zu dem allen auch noch ein Schicksalsschlag.

Du hast schon erzählt, dass vor allem früher kaum jemand über deine finanzielle Lage Bescheid wusste. Redest du da heute eher drüber? Wissen heute Menschen über deine Lage?

Auf der Arbeit habe ich mich letztens aus Spaß und Selbstbelustigung als “Billiglohn-Arbeiter” bezeichnet. Dabei wissen die Leute dort nicht, in welcher finanziellen Lage ich mich befinde oder wer ich wirklich bin. 

 In meinem Freundeskreis war Geld früher auch nie ein Thema. Man hat gerade in der Schule nicht wirklich darüber gesprochen, weil dort vielleicht auch gedacht wurde, dass alle in einem Boot sitzen. In meiner Klasse waren aber auch Kinder sehr reicher Eltern, das hat man ihnen jedoch bis zum ersten Autokauf kaum angemerkt. Man hat einfach generell nicht gemerkt, dass man so große Unterschiede hat. Ich denke, viele leben im Verborgenen. 

In der Schulzeit bin ich sehr ironisch mit meiner sozialen Herkunft umgegangen und habe mich nie tiefgründig darüber unterhalten. Ich gehe nicht sehr offen damit um und wenn, dann mit Personen, denen ich vertraue. Aber da muss man erstmal hinkommen. 

Findest du, dass man offener über Geld reden sollte? Oder denkst du, dass es eher eine private Sache sein sollte?

Ich glaube, viele wären überrascht, wenn sie von meiner prekären finanziellen Lage wüssten. Es ist irgendwie ein Stigma, dass man im Armutskreis anonym bleibt und nicht offen darüber reden kann, weil finanzielle Sicherheit als Normalfall in der Gesellschaft angenommen wird. Ich glaube, es würde schon helfen, wenn man darüber reden würde, damit die Akzeptanz steigt. Dann würde vielen bewusst werden, dass es arme Menschen gibt und wie sie sich fühlen. Sie sollten nicht als stereotype Hartz4ler gesehen werden, die nichts machen. Dafür benötigen wir viel mehr Diskurs in der Öffentlichkeit, damit soziale Unterscheide zwischen den Menschen sichtbar und bewusst werden. 

Glaubst du, wenn man die Anonymität, in der sich viele arme Menschen befinden, aufbrechen würde, dass sich dann politisch etwas verändern würde? 

Ich glaube, selbst wenn es einen größeren Diskurs zum Thema Armut gäbe, wäre die Ignoranz trotzdem schwer zu besiegen. Solang man Arbeitslose politisch als “Hetzmittel” verwenden kann, um eine Agenda in der Politik durchzusetzen, wird es funktionieren, einen Keil zwischen die Menschen zu treiben. In der Agenda 2010 hat Schröder ein System eingeführt, das die Stigmatisierung durch Begriffe wie “Hartz IV”, “die Arbeitslosen”, “Mini-Jobber” oder “Billigarbeiter” ermöglicht hat. Mit dieser Sprache und dem ganzen System “fordern und fördern” hat man dazu beigetragen, dass soziale Schichten abgegrenzt und marginalisiert werden. Vielleicht wäre es ein erster Schritt Richtung Veränderung, häufiger darüber zu sprechen und damit mehr Druck auf die Politik auszuüben. Aber ich weiß wirklich nicht, ob sich am Ende irgendetwas tatsächlich in der Politik ändern würde. 

Machen dich diese Stigmata und dieser Stillstand wütend?

Ja, auf jeden Fall. Nicht wütend zu sein wäre unangebracht. Die Politik, in der ein Mensch nicht als solcher angesehen wird, man die Beitragssätze um drei Euro dieses Jahr erhöht hat, was am Ende sogar noch einen Verlust darstellt, ist herablassend. Sie spricht über eine einkommensschwache Gruppe so abwertend, gibt ihr so wenig und fordert trotzdem noch mehr von ihr. Kaum zu glauben, was man als so ein Mensch durchmachen muss.

Ich finde das sehr spannend, dass du immer wieder über Sprache und wie sprachlich stigmatisiert wird sprichst.

Eine ehemalige Kollegin von mir, die Kroatin ist, wurde am Telefon von einer Beamtin der Bundesagentur für Arbeit als “Bestandsmigrantin” bezeichnet. Damit sei sie noch ein bisschen besser, als andere Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn man es intersektional betrachtet, gibt es überproportional viele hilfsbedürftige Menschen mit Migrationshintergrund, weil sie sich in Deutschland nichts aufbauen konnten. Wie diese Beamt:innen aber mit den Menschen reden, lässt tief blicken in deren eigenes Menschenbild der Kunden. (Anmerkung der Redaktion: Personen, die von der Bundesagentur für Arbeit betreut werden, werden häufig als Kunden bezeichnet.)

Aber den Kunden als Gegenspieler statt als Partner zu betrachten, wodurch die Kunden sehr für ihr Geld kämpfen müssen, als würde es ihnen nicht zustehen, ist einfach krass. 

Um einen kleinen Blick in die Zukunft zu werfen: Du hast vorhin erzählt, dass du vor hast zu studieren. Weißt du schon, wie du dein Studium finanzieren wirst? 

Wie meine Schwester werde ich vermutlich auch den Bafög-Höchstsatz bekommen. Dazu kommt das Kindergeld. Beides zusammen wird auf jeden Fall das Fundament meiner Finanzierung bilden. Abhängig von der Stadt, in die ich ziehen werde, und wie es mir dort geht, werde ich mir dazu noch einen Studentenjob suchen, wie es viele andere ja auch machen. Außerdem habe ich mir überlegt, mich vielleicht auch noch auf ein Stipendium zu bewerben. Dort sind die Hürden zwar sehr hoch, aber ich werde es versuchen. Mal schauen. 

Vielen Dank, lieber Eusebius, für deine Zeit, deine Offenheit und die sehr ehrlichen Einblicke in deine Lage!

Lina

Lina ist 24 Jahre alt und studiert an der Universität Bonn. Wenn sie bei Canapé nicht gerade Gastbeiträge schreibt oder Interviews für die Reihe Zahltag transkribiert, lektoriert sie Texte unserer Autor:innen. Findet ihr also Rechtschreibfehler in einem unserer Texte - probably Lina's fault. Denn sind wir ehrlich: Lina kocht deutlich besser, als dass sie Kommas setzt.

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