Diabetes: Zwischen Diagnose und Daily Life

Vielleicht ist es im Sommer dem ein oder anderen aufgefallen: Immer öfter sieht man auf der Straße Menschen, die ein meist rundes, weißes Plastikplättchen auf dem Oberarm oder Oberschenkel tragen – sogenannte Blutzuckersensoren. Diese Sensoren können Diabetiker:innen das Leben ganz schön erleichtern. Sie messen in regelmäßigen Abständen den Blutzucker und senden die Werte an die Insulinpumpe oder können mit Apps abgelesen werden.

Wenn man im Alltag das Wort Diabetes hört, dann häufig in Kontexten wie „Das enthält so viel Zucker, davon bekommt man ja Diabetes“. Was scherzhaft gemeint ist, verfehlt leider die Realität und kann zusätzlich für Erkrankte verletzend sein. Allgemein ist meist wenig Wissen darüber vorhanden, was Diabetes überhaupt ist, geschweige denn welche Auswirkungen es auf Körper, Geist und vor allem den Alltag hat. Das „Zucker“ in „Zuckerkrankheit“ meint dabei nämlich nicht den Industriezucker, sondern den Blutzucker, der bei Diabetiker:innen nicht durch das körpereigene Insulin reguliert werden kann, da die Bauchspeicheldrüse keins (oder nicht ausreichend viel) produziert oder es durch den Körper nicht aufgenommen werden kann. Das kann über Spritzen oder über eine Insulinpumpe gesteuert werden. Aber diese Dinge in Alltagsgesprächen zu erklären, braucht nicht nur die Zeit und Energie von erkrankten Personen, sondern auch die Aufmerksamkeit der Zuhörenden.

Kurzer Faktencheck zu Diabetes

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„Diabetes” bezeichnet nicht nur eine einzige Krankheit, sondern vor allem die beiden Hauptformen von Diabetes mellitus: Typ 1 und Typ 2. In Deutschland sind mittlerweile über acht Millionen Menschen an Diabetes erkrankt, etwa 90% davon sind Typ-2-Diabetiker:innen. Bei dieser Form handelt es sich um eine Insulinresistenz, die vor allem (aber nicht nur!) bei älteren Menschen auftritt und sowohl durch Veranlagung als auch ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel bedingt sein kann.

An Diabetes Typ 1 sind zwar wesentlich weniger Menschen erkrankt (etwa 340.000 in Deutschland), aber er wird meist schon im Kindes- und Jugendalter diagnostiziert und muss das ganze Leben lang mit einer Insulintherapie behandelt werden. Für diesen Typ gibt es hauptsächlich genetische Ursachen. Infektionen und andere Umweltfaktoren stehen jedoch im Verdacht, das Auftreten der Krankheit zu begünstigen. Dafür spricht unter anderem, dass die Zahl der Neuerkrankungen in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist. Mit Bewegungsmangel, zuckerlastiger Ernährung oder hohem Alter hat Diabetes also nicht unbedingt zu tun.

Zwischen Outfitwahl, Unterzuckerung und Alkohol

Meine Schwester hat seit fast 17 Jahren Diabetes Typ 1, diagnostiziert wurde die Krankheit als sie acht Jahre alt war. Der Umgang mit der Diagnose im Alltag fängt bei einfachen Styling-Fragen an. Gerade Träger:innen einer Insulinpumpe müssen diese ja auch irgendwo im Outfit unterbringen. Man braucht immer Taschen oder man klemmt sie an die Hose. Bei Kleidern wird die Sache schon kniffliger, da der Schlauch zwischen Katheter und Pumpe nicht unbegrenzt lang ist. 

Gerade junge und dynamische Menschen werden täglich mit Herausforderungen in ihrem Diabetes-Management konfrontiert. Ein zu niedriger Blutzuckerspiegel geht oft mit Zittern, Sehstörungen oder Schwindel einher. Um Unterzuckerungen entgegenzuwirken, muss man schnell wirkenden Zucker wie Traubenzucker zu sich nehmen. Dann heißt es abwarten, bis nach etwa 15 Minuten der Blutzucker wieder ausreichend hoch ist. Das kann unter anderem dazu führen, dass man zu spät zu wichtigen Terminen kommt. Denn mit zu niedrigem Blutzucker sollte man weder Autofahren noch laufen.

Unterzuckerungen wirken sich, ebenso wie Überzuckerungen, auf die Schlafqualität von Diabetiker:innen aus. Denn beide Extremwerte bedeuten enormen Stress für den Körper. Oft wird der Schlaf sogar durch die jeweiligen Symptome oder den Alarm der Insulinpumpe, die bei kritischem Blutzuckerspiegel warnt, unterbrochen. Dann muss man entweder noch etwas essen oder Insulin zuführen und auf jeden Fall so lange wach bleiben, bis der Blutzucker sich normalisiert hat. Das kann einem nicht nur die Nacht, sondern mitunter auch den darauffolgenden Tag versauen.

Auch in Klausuren können Über- und Unterzuckerungen zum Nachteil werden, da die Konzentrationsfähigkeit herabgesetzt ist. Wer eine Insulinpumpe trägt, die bei Blutzuckerschwankungen piept, wird in Klausuren oder im Unterricht oft blöd angeschaut oder sogar ermahnt, weil Außenstehende es für ein Handy halten.

Beim Feiern-Gehen müssen Diabetiker:innen Diabetiker:innen verantwortungsvoller sein als durchschnittliche junge Erwachsene. Denn Alkohol lässt den Blutzucker verrücktspielen und kann sehr schnell sehr gefährlich werden. Gerade in Verbindung mit Bewegung, die dafür sorgt, dass Blutzucker schneller abgebaut wird, rauscht der Blutzucker so auch mal lebensgefährlich in den Keller. In solchen Situationen ist man dann unter Umständen auf die Hilfe von anderen angewiesen. Gerade deshalb kann es wichtig sein, andere Menschen darüber zu informieren, dass man Diabetes hat, oder ein Accessoire bei sich zu tragen, das darauf aufmerksam macht. 

Diabetes in der Öffentlichkeit

Durch die Verbreitung der Blutzuckersensoren ist Diabetes zwar in den letzten Jahren wortwörtlich sichtbarer geworden, aber viele nutzen die naturgemäße „Unsichtbarkeit“ der Krankheit dazu, sie geheim zu halten – vor Freund:innen, Lehrer:innen, Arbeitskolleg:innen oder sogar Partner:innen. Die Gründe dafür sind vielfältig, aber oft scheint Angst in irgendeiner Form ein Auslöser zu sein.

Ein prominentes Beispiel dafür, dass Diabetes verheimlicht wird, ist der deutsche Tennis-Star Alexander Zverev, der erst vor kurzem bekannt gab, seit seinem vierten Lebensjahr Typ-1-Diabetiker zu sein. Ich denke – und auch Zverev begründete seine Entscheidung, die Krankheit nun öffentlich zu machen, damit –, dass es wichtig ist, Kindern und Jugendlichen mit der Erkrankung Vorbilder in verschiedenen Bereichen des Lebens, wie dem Leistungssport, zu zeigen. Meine Schwester fand es als Kind wundervoll zu wissen, dass der „stärkste Mann der Welt“ – wie Matthias Steiner nach seinem Olympiasieg im Gewichtheben 2008 genannt wurde – Typ-1-Diabetiker ist.

Die halbe Milliarde an Diabetiker:innen auf der Welt macht es für mich erstaunlich, dass die Krankheit auch medial so wenig „sichtbar“ ist. Ich kenne kaum mediale Auseinandersetzungen mit dem Thema. Gerade in Zeiten, wo die Repräsentation verschiedener marginalisierter Gruppen und Minderheiten ein großes Thema ist, finde ich es wichtig, dass Diabetes (gerade Typ 1) auch in Film und Fernsehen langsam sichtbarer wird. So wie in dem Film „Purple Hearts“, der im Juli diesen Jahres auf Netflix veröffentlicht wurde und eine Typ-1-Diabetikerin als Protagonistin etabliert. Denn wenn das Thema dann mal in Vorabendsendungen behandelt wird, geht es entweder um Typ 2 oder es werden Umstände der Krankheit falsch dargestellt. 

Diabetes und die Psyche 

Als wäre der Alltag mit Diabetes nicht schon herausfordernd genug, hat er wie alle chronischen Krankheiten auch massive Auswirkungen auf die mentale Gesundheit. Die bereits erwähnte Angst vor den Reaktionen der Umwelt auf Diabetiker:innen ist dabei nicht die einzige Folge. Es gibt viele psychische Störungen, die durch eine Diabetes Erkrankung begünstigt werden – eine der häufigsten ist dabei die Depression. Bei Erwachsenen Diabetiker:innen treten depressive Verstimmungen drei- bis viermal häufiger auf als bei Personen mit gesundem Stoffwechsel. Allgemein sind depressiv-ängstliche Reaktionen auf die Bewältigung der Erkrankung und die Verantwortung, die damit einhergeht, sehr häufig.

Fragen stellen, Zuhören, Sensibilisieren 

Daher sollte man versuchen, gesamtgesellschaftlich für die Krankheit und ihre Auswirkungen auf Körper und Geist zu sensibilisieren. Denn oft tritt vor allem Diabetes Typ 1 schon bei jungen Menschen auf, wodurch Kinder plötzlich die Verantwortung für ihr wortwörtliches Leben tragen. Von heute auf morgen muss man lernen, sich Spritzen zu setzen oder Katheter zu legen und die benötigte Insulinmenge je nach aktuellem Blutzuckerwert, Bewegung und Kohlenhydrateinnahme im Kopf auszurechnen. Man muss Essen abwiegen und noch viele andere Dinge plötzlich ganz neu überdenken, was sehr belastend sein kann. Auch Sätze wie „Hast du zu viel Zucker gegessen?“ sollte man Diabetiker:innen nicht fragen. Diese und ähnliche Reaktionen geben gerade Kindern das Gefühl, selbst an der Erkrankung Schuld zu sein, und das sind sie nicht.

Trotz all der Einschränkungen und Umstellungen, ist Diabetes eine der Autoimmunkrankheiten, die gut therapierbar sind. Man kann ein gutes und langes Leben damit führen und muss anderen Menschen in nichts nachstehen, wenn man ein stabiles Diabetes-Management betreibt. Dennoch verändert die Diagnose das ganze Leben. Jede:r Typ-1-Diabetiker:in weiß, dass er:sie sich in einer Therapie auf Lebenszeit befindet – ohne Aussicht auf Heilung, aber mit Aussicht auf potenzielle Langzeitfolgen für Psyche und Körper.

Lasst uns also mehr darüber nachdenken, wie wir über Diabetes und andere Krankheiten, über die wir eigentlich nicht so viel wissen, sprechen und Witze machen. Denn gerade bei solchen unsichtbaren Krankheiten ist es für Außenstehende nicht leicht nachzuvollziehen, was Erkrankte möglicherweise verletzen könnte. Wie bei allen Bereichen, die man nicht versteht oder nicht kennt, gilt es also, Fragen zu stellen und den Betroffenen zuzuhören, damit sie sich akzeptiert und respektiert fühlen.

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