Tolle Jahreszeit

Ein Blatt in einer Schreibmaschine. Auf dem Blatt steht "Stories matter"
Bildquelle: pexels.com

Gregor musste unter Anstrengungen seinen Kopf winden, und das ärgerte ihn etwas.Links über seine Schulter hinweg und nur durch heftiges Zusammenkneifen seiner Augen sah er auf der Anzeigetafel ganz am Ende des Straßenbahnwaggons, dass die S-Bahn mittlerweile an der Station Eifelstraße Köln stand. Laut Fahrplan würde es noch etwa fünfzehn Minuten dauern, ehe er am Hauptbahnhof wäre. Wieder ärgerte er sich, diesmal, weil er die derart langsame Linie 16 genommen hatte – hätte er am Bonner Hauptbahnhof doch nur noch etwas gewartet, etwas ausgeharrt, bis die verspäteten Züge der Deutschen Bahn wieder fahren könnten, wäre er vielleicht schon an seinem eigentlichen Ziel, in Köln West.

Aber man hatte ihm nicht sagen können, wie lange die Züge noch im Hauptbahnhof stehen würden. Das wenig überraschende Aufkommen des Rosenmontags hatte also die Zugstrecken – teilweise zumindest – lahm gelegt, und so war für Gregor die Straßenbahn auf dem Papier die schnellste Alternative gewesen. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Jetzt schlich die Straßenbahn von Haltestelle zu Haltestelle, und durch den Straßenkarneval nahe des Barbarossaplatzes würde es wahrscheinlich nochmal etwas länger dauern, ehe er am Kölner Hauptbahnhof in die nächste Straßenbahn umsteigen konnte. Immerhin habe ich mir etwas zum Lesen mitgenommen, dachte er bei sich, und vertiefte sich in die Lektüre seines Lieblingsschriftstellers.

Mit der Ruhe war es aber schnell vorbei, als die S-Bahn sich bis an den Barbarossaplatz durchgekämpft hatte. Schon vor dem Öffnen der Türen, denen Gregor schräg gegenüber saß, drängten die Menschen an die Straßenbahn heran. Teufel, FBI-AgentInnen, Bienen – alle wollten Platz finden, vielleicht gab es sogar noch einen freien Sitzplatz zu erobern. Gregor seufzte in Erwartung der kommenden Unruhe. Ja, auch er war hier in Köln, um Karneval zu feiern – sein Kostüm war zwar noch in den Tiefen seiner Umhängetasche vergraben, doch lag es bereit, um in Eile übergestreift zu werden. Aber noch sah er sich nicht als Karnevalist, schließlich war er ja noch im Zivil, sozusagen, und das würde sich nicht ändern, ehe er das Studentenviertel im Westen Kölns erreicht hätte.

Dann gingen die Türen des Wagens auf, und in wenigen Sekunden hatte dieser sich so stark gefüllt, dass für einige Minuten die Türen offen blieben, so groß war der Kampf um eine Mitfahrgelegenheit. Gregor war mittlerweile auf den Fensterplatz vorgerückt, es kam einer Flucht vor den Feiernden, zu denen er sich doch in einer Stunde auch zählen würde, gleich. Zu seinem Unbehagen aber ließ sich sofort ein Mädchen erleichtert auf den Sitzplatz neben ihm fallen. Sie trug eine weiße Malerhose, auf die einige Namen und Symbole draufgemalt waren – wahrscheinlich die Überreste einer Abiturfeier, dachte sich Gregor. Dazu trug sie eine grüne Fleece-Jacke, und ihre Augen waren hinter einer herzförmigen Sonnenbrille versteckt. Auch auf das Gesicht hatte sie Herzchen gemalt, und Gregor befand nach einem schüchternen Seitenblick, dass ihr das gut stand. Ermüdet sank sie in den Sitz, scheinbar erschöpft, und auch wenn ihre Fahrt wohl am Kölner Hauptbahnhof bereits enden würde, lag es ihr anscheinend daran, diese wenigen Minuten der Ruhe zu nutzen. 

Doch dazu sollte es nicht kommen. Noch immer drängten Menschen in den Waggon, und so standen neben Gregors Sitzreihe, direkt am Gang bei dem Mädchen, zwei junge Männer. Es war schwer zu sagen, ob sie Karneval gefeiert hatten, da sie nicht kostümiert waren, jedoch schienen auch sie hervorragender Stimmung zu sein. Sofort hatte einer der beiden das fast schlafende Mädchen bemerkt. Belustigt tippte er seinen Freund an, und stieß ihr daraufhin mit dem Zeigefinger in die Seite. „He, nicht schlafen“, rief er amüsiert. Müde schaute das Mädchen auf, sie schien zu überlegen, ob sie Widerstand leisten sollte. Dann gewann aber die Müdigkeit, und sie sackte wieder in ihre Entspannung zurück. Wieder stieß der Mann ihr in die Seite. „He, nicht schlafen! Hast du gekifft?“ Lachend drehte er sich zu seinem Freund. „Meinst du, die hat gekifft?“ Die mündliche Piesackerei ging weiter, irgendwann warf das Mädchen einen müden, hilfesuchenden Seitenblick zu Gregor.

Aber Gregor starrte auf die vor ihm geöffnete Buchseite, das Lesen hatte er schon seit einiger Zeit aufgegeben, es war Feigheit, die ihn von einem eingreifenden Wort abhielt. Muss ich etwas sagen?, fragte er sich. Ist das mein Konflikt? Er hatte Angst, die Häme der beiden Männer auf sich zu ziehen, denn sie schienen stärker zu sein als er. Aber auch stärker als das Herzchen-Mädchen. Langsam, ganz langsam, drehte Gregor sich zu dem Mädchen. „Kennst du die?“, flüsterte er ihr zu. „Nein…“, sagte sie müde. „Sollen wir Plätze tauschen?“ Jetzt konnte sie nur noch kraftlos nicken, und es schien sie anzustrengen, auf den Fensterplatz zu rutschen, während Gregor aufstand und sich an den Gang setzte. Das Buch zugeschlagen, starrte er in den vollen Waggon. Er spürte den Seitenblick der jungen Männer, ihren Frust, dass sie ihr wehrloses Opfer fürs Erste verloren hatten.

Die S-Bahn hielt wieder. Unter den Leuten, die einstiegen, befand sich ein obdachloser Mann. Seine Beine waren verwachsen, nur noch ein Teil seiner Füße hielt sich in den abgenutzten Schuhen. Als Kleidung schien er einen Schlafsack zu tragen, in seinen schmutzigen Händen hielt er einen To-Go-Becher. „Schönen guten Abend, ich bin obdachlos und lebe auf der Straße. Hat jemand vielleicht eine kleine Spende?“, fragte er. Ein mehrtöniges „Neeee“ schallte ihm entgegen, und da die Bahn zur Abfahrt bereit war, schlossen sich die Türen. Die übernächste Station war der Kölner Hauptbahnhof.

Auf einmal mischte sich unter den Geruch von Alkohol und Nikotin, welcher seit geraumer Zeit schon die Bahn dominierte, eine neue Essenz. Zweifellos kam sie von dem armen Mann mit dem Schlafsack und den verwachsenen Beinen; Es fing an, zu stinken. Zum Leidwesen des Obdachlosen bemerkten die beiden jungen Männer neben Gregor – vermutlich voller Freude, ein neues Opfer gefunden zu haben, dass der Gestank von ihm kam. „Ey, Chef, steig mal aus, du stinkst!“, rief der eine. Lachender Beifall kam ihm entgegen, einige im Waggon applaudierten sogar. Der junge Mann hatte nun Feuer gefangen. „Geh mal duschen, Meister“, sagte er und wandte sich zu einer jungen Frau hinter ihm. „Der hat sich safe in die Hose geschissen.“ „In die Hose geschissen!“, wiederholte sie lachend und kreischend, und Rufe kamen auf, als die Bahn ihren letzten Halt vor dem Hauptbahnhof tat. „Verpiss dich mal!“, hieß es, oder „Wasch dich, du Opfer!“

Gregor saß nur still da. Seine Courage war gänzlich aufgebraucht. Nur einen verächtlichen Seitenblick hatte er für den jungen Provokateur übrig, doch das störte den Mann nicht, zu sehr gefiel er sich in seiner Rolle als Richter über Hohn und Spott. Jemand gab ihm eine Flasche Deo, und er sprühte den Obdachlosen an, dass dieser anfing zu husten und zu keuchen. Mittlerweile hatte der Zug den Hauptbahnhof erreicht. Gut gelaunt, dass sie die letzten Minuten so großartig unterhalten wurden, stiegen die Karnevalisten aus.

Gregor aber ging mit gesenktem Haupt aus der S-Bahn-Station, und als er wenig später am Gleis stand, überfiel ihn ein kurzes Schluchzen. Eine Stunde später hing er Arm in Arm mit anderen Feiernden in einer Kölner Studentenkneipe, und grölte ausgelassen Karnevalslieder mit. Tolle Jahreszeit, dachte er bei sich. 

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