Und trotzdem: Ungarn

Bildquellen: Unsplash


Nele ist als offen queer lebende Person nach Ungarn gezogen – ein Land, das vor allem für seine queerfeindliche Politik bekannt ist. Wie es ihr dort ergangen ist, erzählt unsere Autorin Lisa Schmachtenberger.

„Am Anfang habe ich gedacht: Was mache ich nur hier? Aber rückblickend bereue ich wirklich nichts.“ Nele Hofhauser lächelt, als sie über das vergangene Jahr spricht. Hinter ihr liegen aufregende Monate. Im Gegensatz zu anderen aus ihrem Freundeskreis, die studieren oder eine Ausbildung machen, hat Nele sich für einen außergewöhnlichen Weg entschieden: Die 20-Jährige ist alleine nach Ungarn gezogen.

Nele widerspricht damit nicht nur dem Klischee, nach dem Abitur erstmal ein Jahr in Australien zu verbringen. Nein, es zeigt sich auch ein persönlicher Widerspruch: eine offen queer lebende junge Frau zieht in ein Land, das unter anderem für seine queerfeindliche Politik bekannt ist. Unter Ministerpräsident Viktor Orbán wurde 2021 ein Gesetz erlassen, das – laut offiziellen Erklärungen – zum Schutze Minderjähriger Darstellungen von Homo- und Transidentität verbietet. Zudem haben sich die Rechte gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften unter dem Einfluss Viktor Orbáns verschlechtert. Wie kommt es also dazu, dass sich Nele entschieden hat, ausgerechnet nach Ungarn zu ziehen?

Rückblick: Es ist 2020, mitten im tiefsten Corona-Lockdown. Nele macht Abitur und danach ein Freiwilliges Soziales Jahr. Studieren, so erzählt sie, will sie danach nicht, und macht sich also Gedanken, welche Möglichkeiten es sonst für sie gibt. Neles Vater ist gebürtiger Ungare, hat ihr und ihren Geschwistern jedoch nie seine Muttersprache beigebracht. „Ich habe zwar schon oft versucht, Ungarisch zu lernen, es hat aber nie so wirklich funktioniert“, berichtet Nele. Also fasst sie den Entschluss, dieses Mal Nägel mit Köpfen zu machen: „Ich habe mir gesagt: wenn du wirklich Ungarisch lernen willst, dann ziehst du in das Land und lernst die Sprache richtig!“

Gesagt, getan. Nele entscheidet sich, nach Budapest zu ziehen – wie sie selbst sagt „die schönste Stadt, die ich je gesehen habe.“ Den Sommer über arbeitet sie in verschiedenen Nebenjobs, um sich die erste Zeit im neuen Land über Wasser halten zu können. Und im November 2021 ist es so weit: Nur mit einem Koffer und einem großen Rucksack steigt sie in den Zug, der sie in Ungarns Hauptstadt bringt. 

Ein kleines Abenteuer

Wie sie die erste Zeit dort beschreibt? „Irgendwie schon komisch. Ich konnte ja wirklich gar kein Wort Ungarisch, kannte weder die Leute noch die Gegend. Aber meine Jungs haben mir zum Glück sehr geholfen.“ Neles WG-Mitbewohner kommen wie sie aus Deutschland und studieren in Budapest. Und neben ihnen gibt der 20-Jährigen auch ihre neue Routine Halt: Fast eineinhalb Jahre nach ihrem Abitur geht Nele jetzt wieder zur Schule: „In der Sprachschule in Budapest hatte ich jeden Tag fünf Stunden Unterricht, wie im richtigen Schulalltag. Jeden zweiten Tag hatten wir neue Grammatik und neuen Stoff, dadurch habe ich sehr intensiv Ungarisch gelernt. Je mehr Sommer es wurde, desto weniger Unterricht hatten wir; man konnte mehr rausgehen, Leute treffen und die Sprache auch im Alltag sprechen lernen.“

Mittlerweile kann sie sich gut verständigen, doch der Weg dahin war alles andere als leicht, da die fremde Grammatik und die schwierige Sprache der 20-Jährigen anfangs Probleme machten. Es hat ihr aber dennoch Spaß gemacht, die Sprache zu lernen. 

Fließend spricht Nele Ungarisch zwar noch nicht, bei Sprachproblemen wird ihr aber viel Verständnis entgegengebracht: „Wenn die Leute merken, dass man sich anstrengt ihre Sprache zu sprechen, die ziemlich schwer zu lernen ist, sind sie mega offen und happy und finden das total cool.“ Nele lächelt, als sie von einer besonders schönen Erinnerung erzählt: „Ich war mal bei einem Bäcker und der hat gehört, dass ich einen Akzent habe. Dann hat er mich gefragt, seit wann ich Ungarisch lerne und fand das total toll. Zum Abschied hat er mir dann einfach ein Brötchen geschenkt.“

In der Sprachschule lernt Nele auch ein deutsches Auswandererpaar kennen und beginnt, nebenbei als Babysitterin für die Kinder der beiden zu arbeiten. Deutsche, die nach Ungarn auswandern, sind dabei keine Seltenheit: Insgesamt leben 17.490 deutsche Staatsbürger:innnen in Ungarn (Stand: 2021, Quelle: Statista) Ein Vorteil dabei: Die Lebenshaltungskosten sind im Vergleich zu Deutschland gering, wie Nele berichtet: „Ein Bier bekommt man zum Teil für umgerechnet 20 Cent und einen Döner für 2 Euro. Das glaubt man kaum.“

Nele erzählt weiter, dass auch die Ungar:innen die deutschen Auswanderer mit offenen Armen empfangen: „Ungarn und Deutschland haben bessere Beziehungen als man denkt. Es gibt deutsch-ungarische Kindergärten und sogar komplett deutsche Schulen. Viele Ungar:innen sind auch total begeistert von Deutschland und der deutschen Kultur. Ich kenne Ungar:innen, die so gut Deutsch sprechen, dass sie an deutschen Universitäten in Ungarn studieren.“ In die ungarische Community ist Nele mittlerweile auch gut integriert. Über einen ihrer Mitbewohner lernt sie eine Ungarin kennen, die fließend Deutsch spricht und Nele im neuen Land an der Hand genommen und sie mit ihrem neuen Freundeskreis bekannt gemacht hat. 

Nele fühlt sich in Ungarn wohl und blickt positiv auf das vergangene Jahr zurück: „Ich würde wirklich jedem empfehlen, ins Ausland zu gehen. Ich bin selbst viel offener und selbstständiger geworden. Wenn du Fernweh nach einem Land hast, dann geh´einfach hin! Und gerade in Europa ist es so wichtig, dass wir alle zusammenhalten und Kontakte untereinander pflegen. Vor allem, weil es politisch den Eindruck macht, dass Ungarn sich abspaltet. Aber das liegt eben an der Regierung, nicht an den Leuten selbst.“

Queerness und Ungarn – passt das zusammen?

Denn nach außen wird Ungarn vor allem als das Land gesehen, dessen Bild durch konservative und queerfeindliche Politik bestimmt wird. Queerfeindlichkeit hat Nele auch in Deutschland erlebt – jedoch mit einem Unterschied: Denken wir in Deutschland an Queerfeindlichkeit, denken wir an Malte C., der auf dem Christopher Street Day in Münster niedergeschlagen wurde und seinen Verletzungen erlag, nachdem er zwei Frauen vor einem homophoben Angreifer beschützen wollte. Wir denken an Hassbotschaften und Morddrohungen, die queere Politiker:innen erhalten. Wir denken an rechte Hetze gegen queere Menschen in den sozialen Netzwerken.
Kurzum: wir sprechen von Hasskriminalität, die aus der Zivilgesellschaft stammt und von politisch bekämpft wird.

In Ungarn geht der Hass gegen queere Menschen vor allem von der Regierung aus.  Ministerpräsident Viktor Orbán bringt in öffentlichen Reden Homosexualität und Kindesmissbrauch in Zusammenhang; kritisierte in seiner Antrittsrede die EU für ihren „Gender-Wahnsinn“ und das „Bevölkerungsaustauschprogramm“, bei dem „christliche Kinder“ gegen „Migranten aus anderen Zivilisationen“ ausgetauscht werden sollten. Kein besonders angenehmes Klima, wenn man seinen nationalistischen und rechtskonservativen Äußerungen nicht übereinstimmt.

Abgehalten hat das Nele aber nicht, als queere Person nach Ungarn zu ziehen. Sie wusste, worauf sie sich einlässt: „Als ich auf den Pride-March in Budapest gegangen bin, habe ich gemerkt, dass da eine komplett andere Stimmung war als in Deutschland. In Berlin geht zum Beispiel jede:r auf den CSD, um einfach zu feiern und eine gute Zeit zu haben. In Budapest war die Atmosphäre viel politischer. Da hinzugehen, mit dem Wissen, dass man für die eigenen Rechte kämpft, war ein besonderes Statement.“ Direkte Anfeindungen hat sie selbst noch nicht erlebt.
Ob man Queerness unterstützt oder ablehnt, hat zudem nichts mit der Nationalität zu tun, wie Nele meint: „Mit dem Mädchen, auf das ich aufpasse, habe ich irgendwann mal darüber geredet, dass ja auch zwei Frauen einander heiraten dürften. Und da hat sie nur gesagt: “Meine Mama hat gesagt, ich darf keine Frau heiraten”.“ Nele holt tief Luft und fährt fort: „Ihre Eltern kommen ja aus Deutschland, sind trotzdem gegen Queerness. Es gibt eben solche und solche Menschen; in Ungarn ist das genauso wie in Deutschland.“ Sie erzählt von einem Ungaren, der ihr mal gesagt hat, er hoffe für sie, dass sie einen Mann heirate und keine Frau. Das sei für sie nicht sehr verletzend gewesen, aber: „Sowas sagt man einfach nicht. Aber ich denke da immer an andere, die viel mehr unfreundliche Kommentare abbekommen als ich, gerade, wenn man vielleicht auch in ländliche Regionen schaut. Trotzdem, der Großteil der Ungar:innen ist sehr offen und tolerant, die öffentliche Debatte wird da vor allem von der Regierung beeinflusst.“

Warum wählt man dann eine queerfeindliche Partei, wenn man in dieser Hinsicht nicht mit der Haltung übereinstimmt? Nele findet dafür nur schwer eine Erklärung. „Orbán und seine Partei machen sehr viel Politik, die sich nur auf Ungarn konzentriert. Man kann dort sehr gut leben, es gibt keine Probleme mit zu teurem Öl oder Gas, wie in Deutschland zurzeit. Die Leute wollen sich gut fühlen und wählen ihn deshalb.“ Die queere Community in Ungarn wächst dennoch und lässt sich nicht unterkriegen.

Nele berichtet von einer ungarischen Moderatorin, die offen lesbisch lebt und ihre Popularität nutzt, um sich für die queere Gemeinschaft einzusetzen. „Die Leute werden dadurch immer selbstbewusster. Durch solche Beispiele oder Social Media allgemein, wo Queerness sehr präsent ist, trauen sich die Leute, ihre queere Identität auszuleben.“ Was sie sich für Ungarn und die LGBTQUIA+-Community wünscht? „Die Gemeinschaft soll weiterwachsen. Und dazu zählt auch, dass man nicht zwingend queer sein muss, um sich für queere Menschen einzusetzen. Neben mehr Sichtbarkeit braucht es auch noch mehr Akzeptanz und Unterstützung.“ 

Obwohl die Akzeptanz für queere Menschen in Deutschland höher ist, hat Nele kein Heimweh nach Deutschland: „Würzburg als den Ort, an dem meine Familie und mein Freundeskreis sind, vermisse ich schon manchmal. Das Land an sich aber nicht. Ungarn ist mehr wie ich. Das Klima ist entspannter, die Leute haben die gleiche Einstellung wie ich. Wenn jemand zum Beispiel zu spät kommt, ist das überhaupt nicht schlimm. Und das ist in meinem Fall gut, ich komme häufig zu spät.“ Nele lacht auf und macht eine kurze Pause. Sie schmunzelt, als sie fortfährt: „Ungarn ist in allem einfach so… undeutsch.“

Im Herbst wird Nele trotzdem zurück nach Deutschland ziehen, um in Hamburg Event-Management zu studieren. Nach Ungarn zurückzukommen, plant sie aber in jedem Fall: „Den Master möchte ich auf jeden Fall in Budapest studieren. Ich liebe Ungarn, die Sprache, die Kultur und die Lockerheit. Und weil mein Vater ja selbst Ungare ist und ein Teil meiner Familie in Ungarn lebt, möchte ich mir die doppelte Staatsbürgerschaft eintragen lassen. Ich bin stolz, zur Hälfte Ungarin zu sein, das ist ein Teil meiner Identität. Deshalb wäre es auch wirklich schön, wenn ich irgendwann in Ungarn arbeiten und mir dort eine Existenz aufbauen kann.“ 

Lisa Schmachtenberger

Lisa ist 19 Jahre alt und studiert Political and Social Studies und Germanistik an der Uni Würzburg. Passend zu ihrem Studium schreibt sie am liebsten über Politik, Literatur und Popkultur. Neben dem Schreiben besitzt sie noch andere Superkräfte: Sie kann mit den Ohren wackeln und weiß alles über Helmut Schmidt.

@lisaschmachtenberger

Previous Story

Alle für die Krone, die Krone für Alle

Next Story

Ist das Kunst oder kann das weg? – Frauenfeindliche Texte im Deutsch-Rap

Das neueste von Politik & Gesellschaft