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Ein Plädoyer für die Pflicht zu urlauben

Bildquelle: pexels.com

Es ist Sommer, es ist heiß, und das Sommerloch dominiert die breite Medienwelt. Jedes Jahr aufs Neue scheint es so, als drehe sich die Welt für einige Wochen langsamer, während sich an Badeseen und Eisdielen getummelt wird. 

Und auch die Politik scheint eine Verschnaufpause einzulegen – die parlamentarische Sommerpause. Oder um es offiziell auszudrücken

Die parlamentarische Sommerpause dauert in der Regel zwei Monate, von Juli bis August. In dieser Zeit finden im Deutschen Bundestag keine Sitzungen statt. Die Abgeordneten widmen sich in dieser Zeit ihrem Wahlkreis, befassen sich mit Detailfragen, planen Sitzungen und Anhörungen und bereiten Gesetzentwürfe für den Herbst vor.

Zwar kein Wort von Urlaub für die Menschen, die dieses Land regieren, aber zurecht nehmen sich viele Politiker:innen während dieser zwei Monate eine vermeintlich private Auszeit. 

Politiker:innen sommerlich und ganz privat?

Jahr für Jahr machten Bilder von Angela Merkel im Urlaub die Runde. Mal in der Gondel beim Wandern mit Joachim Sauer, mal beim Kaufen von Fisch auf Ischia. Und genau so kursieren etliche Bilder von beliebig vielen anderen Politiker:innen im Sommer in den Klatschblättern oder verirren sich in vermeintlich seriöse Zeitungen. 

Diese Fotos vermitteln: Sie gönnen sich eine Auszeit, sind mal ganz privat. Aber diese private Ebene, die diese Schnappschüsse vermitteln wollen, scheint mir jedes Jahr aufs neue suspekt. Denn offensichtlich sind die Personen ja nicht ganz privat. Viele dieser Bilder wirken inszeniert und schreien mich förmlich an: “Ja, wir sind ganz normal, wir gönnen uns eine Pause, wir kommen mal runter, wir sind wie du!”. 

Und natürlich wirkt es nahbar, wenn man sieht, dass auch Angela hässliche Wanderschuhe hat, auch ihr Style im Urlaub echt schwierig ist oder auch sie auf einem lokalen griechischen Fischmarkt diesen armen kleinen mehr oder minder frischen Fisch, der ihr dort angedreht wird, etwas überfordert beäugt. Ja, Angela, so geht es mir auch. 

Diese Bilder funktionieren, denn sie bleiben im Kopf hängen. 

Aber während auch ich mir auf der einen Seite die sommerlich verschwitzten Gossip-Hände reibe, wenn ich genau solche Bilder irgendwo beim Nordsee-Urlaub auf der Titelseite der Bild prangen sehe, so hat das Thema Urlaub von Politiker:innen im gesellschaftlichen Diskurs eine perfide Kehrseite.  

Anne Spiegel und die Urlaubs-Entschuldigung

Im Sommer 2021 verhielt sich Anne Spiegel auf eine Art und Weise, die sie im Verlauf der Zeit ihren politischen Kopf kosten sollte – sie war im Urlaub. Dafür entschuldigte sie sich zumindest am Schluss, aber ganz so einfach war es tatsächlich nicht. Neben ungünstigen Chat-Verläufen und der Dynamik, ihr daraus einen Strick zu drehen, wurde Anne Spiegel vorgeworfen, dass sie zur Zeit der Flut in Rheinland-Pfalz nicht da war – sondern im Urlaub. Und das alle, während Armin Laschet im Flutgebiet lachte wie ein pubertierender Neuntklässler, weil jemand einen Witz gemacht hatte. Aber Anne Spiegel bat um Entschuldigung und bezeichnete es als einen Fehler, dass sie in den Urlaub gefahren sei. 

Katastrophen passieren und die Politik muss jederzeit reagieren und regieren. Denn auch weil es sich für mich am überfüllten Badesee mit einem schmelzenden Eis anders anfühlt, die Welt dreht sich weiter, Unglücke passieren, politische Prozesse stehen nie still. 

Doppelmoral zwischen Gossip und Unmenschlichkeit 

Wenn wir uns aber jedes Jahr aufs Neue an vermeintlich nahbaren Bilder von Politiker:innen im Urlaub laben, diese sie aber am Ende ihre politischen Karrieren kostet, dann ist das eine Doppelmoral, die auf einem bedenklichen Politiker-(Menschen)bild basiert. Und genau das ist fatal. Denn wir legen andere Maßstäbe an Politiker:innen an als wir sie jemals an Menschen aus unserem direkten Umfeld legen würden. Einer Freundin mit einem facettenreichen und anspruchsvollen Job würde ich immer raten, Urlaub zu machen, sobald und solang sie kann. Mir selbst erlege ich jedes Jahr mindestens zehn Tage Urlaub am Stück auf – weil ich weiß, wie wichtig es ist, mal abzuschalten, neue Ruhe zu finden und Inspirationen zu sammeln.

Stellen wir aber im gesellschaftlichen Diskurs die Verantwortung von Politiker:innen über ihre Menschlichkeit mit all ihrenGrenzen und auch privaten Verpflichtungen, dann ist das mehr als ungerecht. Es fehlt an Empathie für diese Personengruppe, weil sie eben nicht als Individuen gesehen werden, sondern als Politiker:innen, also nur als Menschen mit Funktion. Immer im Dienst, keine Pause, kein vorgesehener Urlaub, unermüdlich. 

Dieses Bild ist nicht nur unreflektiert, verblendet und unrealistisch, sondern unglaublich weit weg von einer gesunden Umgangsweise.

Menschenrecht auf Erholung 

In jedem gängigen Job gibt es Vertretungen, ein Netz, das den Urlaub oder Ausfall einer Person auffangen kann und will. Und genau dieses Netzwerk könnte es auch in der Politik geben, wenn man nur wollte. Denn es gibt ein Menschenrecht auf Erholung, wie es schon Margarete Stokowski im April 2022 in ihrem Artikel über die Akte Anne Spiegel anmerkte.

Ich bin der Überzeugung, dass wir mehr als dringend einen grundlegenden Paradigmenwechsel brauchen. Wir müssen die Menschen, die dieses Land mit kühlem Kopf und klugen Entscheidungen regieren sollen, als Individuen mit allen ihren allzu menschlichen Grenzen Schwächen sehen. Denn ich will nicht von jemandem regiert werden, der:die in seinem:ihrem Workaholic-Hamsterrad immer auf dem schmalen Grad zum Burnout tanzt. Ich will die Pflicht zu urlauben für Politiker:innen. Denn ich will, dass die Menschen, die für die Politik zuständig sind, mit der ich leben muss und will, gesund, ausgeglichen und zufrieden sind. 

Mental gesunde Menschen brauchen meiner Meinung nach eine Pause vom Trott und Stress des Alltags, um gesund zu bleiben. Damit ist Urlaub und Erholung meiner Meinung und der der OHCHR nach nicht nur notwendig sondern ein zu schützendes Recht. Nur wer mal Abstand von allem nimmt, Ruhe vom lauten Alltag findet und neue Eindrücke sammeln kann – ob in der Eifel oder auf Bali – kann auch wieder mit Ruhe und bedacht kluge Entscheidungen treffen. 

Denn es ist nie ein Fehler in den Urlaub zu fahren, weder für dich und mich, noch für Politiker:innen. Also lasst uns sowohl ihnen, als auch uns selbst ein bisschen mehr Fürsorge zukommen, indem wir uns alle zum Urlauben verpflichten. 

Lina

Lina ist 24 Jahre alt und studiert an der Universität Bonn. Wenn sie bei Canapé nicht gerade Gastbeiträge schreibt oder Interviews für die Reihe Zahltag transkribiert, lektoriert sie Texte unserer Autor:innen. Findet ihr also Rechtschreibfehler in einem unserer Texte - probably Lina's fault. Denn sind wir ehrlich: Lina kocht deutlich besser, als dass sie Kommas setzt.

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