Kirchner und Nolde – Kunst und Kolonialismus

Emil Nolde, Tänzerin, 1913. Städel Museum © Nolde Stiftung Seebüll. Photo: bpk / Städel Museum.

Vielleicht habe ich zu Schulzeiten im Geschichtsunterricht nicht richtig aufgepasst, aber erinnert sich irgendjemand daran, etwas über den deutschen Kolonialismus gelernt zu haben?

Ich jedenfalls nicht. Doch durch die Kunst habe ich nun einiges darüber gelernt, und zwar im Stedelijk Museum in Amsterdam. In diesem renommierten Kunstmuseum fand eine Ausstellung zu den zwei deutschen Künstlern Ernst Ludwig Kirchner und Emil Nolde statt, von Beatrice von Bormann (Stedelijk Museum Amsterdam, Niederlande) und Dorthe Aegesen (Statens Museum for Kunst, Dänemark) kuratiert. 

Emil Nolde (1867-1956) und Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) zählen laut vieler Kunsthistoriker:innen zu den wichtigsten Vertretern des Expressionismus, einem Kunststil, der sich Ende des 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung zum Impressionismus entwickelte. Es ging den Kunstschaffenden im Expressionismus darum, ihre subjektiven Emotionen und Erlebnisse auszudrücken, ob in Form von plakativer Malerei oder Linoleum- und Holzschnitten. Sie wollten weg von Tradition und Naturalismus, suchten aber nach einer neuen Form der Natürlichkeit und schöpften hierfür teilweise Inspiration aus außereuropäischer Kunst und Kultur. Nolde und Kirchner besuchten unter anderem Völkerkundemuseen und ethnografische Ausstellungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts Objekte wie Masken und Figuren aus Afrika und Ozeanien präsentierten – Gebiete, in denen das Deutsche Kaiserreich Kolonien besaß.

In den 1880er Jahren begannen deutsche Kaufmänner und Händler Land in Afrika zu Spottpreisen anzukaufen, welche zunächst als Handelsstützpunkte dienten und später den Weg bahnten zur Besiedlung größerer Regionen. Zu diesen Kolonien oder sogenannten “Schutzgebieten” des Deutschen Kaiserreichs (1871-1918) gehörten das heutige Namibia, Togo und Kamerun im Westen Afrikas, Tansania, Burundi und Ruanda im Osten, sowie Teile Neuguineas und östlich liegende Inselgruppen in Ozeanien. Ein Gebiet in China, Kiautschou, wurde zudem für 99 Jahre an Deutschland verpachtet.

Die Einheimischen der Kolonien, oft “Schutzbefohlene” genannt, wurden im Kaiserreich nicht als gleichwertige Menschen angesehen. Oft wurde beispielsweise nicht zwischen den verschiedenen Stämmen, Sprachen oder Kulturen Afrikas unterschieden und sie wurden mit rassistischen Begriffen wie dem N-Wort bezeichnet. Sie galten als “Wilde”, denen die westliche Zivilisation und der christliche Glaube gelehrt werden sollte. In sogenannten  “Völkerschauen” wurde deutlich: diese “unzivilisierten, primitiven Exoten” waren eine Sensation! Die Menschen wurden wie Tiere im Zoo vorgeführt – nicht etwa, um dem Westen neue Kulturen nahe zu bringen, sondern vielmehr, um sich der eigenen Überlegenheit zu rühmen. Mit der Zeit wurden aufwendigere „Dörfer“ nachgebaut, jedoch waren diese Darbietungen meistens nicht einmal ansatzweise mit dem echten Leben der Einheimischen verbunden. Stattdessen wurden anhand von Shows und Kunststücken Stereotypen und Vorurteile auf diesen Völkerschauen – in Deutschland noch bis in die 1930er Jahre! – präsentiert. Das rassistische Denken, die weiße Rasse sei allen anderen überlegen, wurde damit noch tiefer als zuvor im Narrativ der weißen, westlichen Gesellschaft verwurzelt. 

Nun könnte man meinen, dass die Kunst von Emil Nolde und Ernst Ludwig Kirchner bloß ein Spiegel der Zeit war und Eindrücke aus der Kolonialzeit bot. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund wird allerdings deutlich, dass die expressionistischen Werke mit ihren kräftigen, leuchtenden Farben und groben Formen, nicht nur auf unschönen Ideologien basieren, sondern vielmehr exotisierende Klischees bestätigen. Sie waren zwar fasziniert von der Ästhetik Afrikas und Ozeaniens, dem Wilden, Fremden und scheinbar Unterentwickelten – ein Phänomen, das sich Primitivismus nennt – interessierten sich jedoch wenig bis gar nicht für die wahren Geschichten und Kulturen der Kolonien. 

Den Künstlern ging es stattdessen um ihre subjektive Auffassung. So kopierten Nolde und Kirchner unreflektiert das, was sie in den unterschiedlichen, vom Westen verzerrten Ausstellungen und Völkerschauen sahen. Entweder gliederten sie ihre Impressionen wild durcheinander in ihre Werke ein, wie am Beispiel Mann, Frau, und Katze von Emil Nolde, oder indem sie sich zum Teil ihre eigene Fantasiewelt ausmalten. Ein Beispiel hierfür ist das Werk Bauchtanz (auch unter dem Namen N-tänzerin zu finden) von Kirchner, für das er sich von einer Sudanesin auf einer Völkerschau hat inspirieren lassen. Kirchner stellt die Frau in seinem Gemälde mit Kopftuch dar, was zwar auch dem wahren Modell entspricht, allerdings ist es sehr unwahrscheinlich, dass die unbekannte Frau nackt aufgetreten ist, da sie womöglich einer islamischen Kultur angehörte. 

Zu Deutsch wird dies “kulturelle Aneignung”, im Englischen “cultural appropriation” genannt: Sich also als dominante Gesellschaftsgruppe an Elementen einer Minderheit zu bedienen, ohne Respekt vor ihren kulturellen Hintergründen. Heutzutage kommt so etwas beispielsweise in der Modewelt vor, in Form von Dreadlocks auf dem Laufsteg oder traditionell mexikanischen Mustern bei Zara bei der – schlimmer noch – Profit geschlagen wird. Ein weiteres Beispiel tritt in der Sprache auf: Der Begriff „spirit animal“ wird heute zunehmend und zu Recht  problematisiert, da das Konzept zwar von Native Americans stammt, es aber je nach Stamm unterschiedliche Bedeutungen und Bräuche geben kann und hauptsächlich auf einem klischeehaften Konzept basiert. Zwischen cultural appropriation und cultural appreciation, also kultureller Aneignung und kultureller Wertschätzung, liegt ein sehr schmaler Grat. Ausschlaggebend ist, ob man kulturelle Merkmale ausnutzt oder wertschätzt, ob man eine Kultur abwertet, indem nur stereotypisierende Aspekte übernommen werden (wie in den Fällen Nolde, Kirchner und der Modewelt) oder ob man über eine Kultur lernen will, im Idealfall durch eine angehörige Person. Auch das „N-Wort„, weder auf Deutsch noch auf Englisch, in einem Songtext oder aus “Spaß”, ist für nicht-Schwarze nicht okay. 

Die Ausstellung Kirchner en Nolde. Expressionisme. Kolonialisme war unbequem, provozierend, aber vor allem augenöffnend, denn die Ausstellung hat den Blick nicht nur auf den historischen, westlich geprägten Kontext gerichtet, sondern auch auf die kolonisierten und ausgebeuteten Regionen selbst; nicht nur die fantasievollen Kunstwerke gezeigt, sondern dem auch die Perspektive und Realität der Einheimischen selbst gegenübergestellt, beispielsweise durch verschiedene Aufnahmen aus dem damaligen Deutsch-Neuguinea. Es ist gut und wichtig, diese unterschiedlichen Perspektiven zu zeigen, vor allem wie außereuropäische Menschen und Kulturen wahrgenommen werden. Nur so kann auf solche vorurteilslastigen Denkmuster und Hierarchien aufmerksam gemacht werden, damit sie im nächsten Schritt aufgebrochen werden können.

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