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Unbefleckt – Die Jungfräulichkeit als Erfindung des Patriarchats

Bildquelle: Pexels

Content Warnung: Dieser Text thematisiert sexuelle Gewalt

Ich weiß nicht, wie’s euch so geht, aber manchmal glaube ich, dass ich jetzt alles gesehen habe und mich echt nichts mehr überraschen kann. Und dann lese ich irgendeine Schlagzeile und denke so: Hm. Wohl doch nicht. Das Patriarchat hält nämlich immer Überraschungen bereit und die heutige Überraschung lautet: Virginiacare.de. 

Der Onlineshop bietet einen eher ungewöhnlichen Service an: Produkte, die Jungfräulichkeit vortäuschen sollen. Für nur 149 Euro (ein echtes Schnäppchen!) bekommt die dankbare Kundin alles, was sie für die Hochzeitsnacht so braucht, direkt vor die Haustür geliefert. Das sind künstliche Jungfernhäutchen, die wie ein Tampon eingeführt werden, zwei Kapseln mit Trockenblut, eine Tube Vagina-Straffungs-Gel und ein Zertifikat, das der Familie die Jungfräulichkeit der Braut bestätigen soll. 

Was auf den ersten Blick lustig und ziemlich absurd klingt, ist für die Kundinnen von Virginiacare jedoch bitterer Ernst. „Danke, dass sie uns retten!”, heißt es in einer Bewertung, „Sie verhindern bestimmt viele Schicksale” in einer anderen. Eine Kundin schreibt, das Zertifikat habe ihren Bruder erfolgreich täuschen können. Was den Bruder das eigentlich angeht, fragt man sich vergeblich.

Es ist mittlerweile wissenschaftlich ausreichend belegt worden, dass es so etwas wie ein „Jungfernhäutchen” eigentlich nicht gibt und damit auch keine Möglichkeit nachzuweisen, ob jemand schon Sex hatte oder nicht. Der oft fälschlicherweise als „Jungfernhäutchen” bezeichnete Hymen ist einfach nur eine dehnbare Hautfalte, die die Vaginalöffnung umrandet und in den meisten Fällen überhaupt nicht reißt. Trotzdem ist nach wie vor der Glaube weit verbreitet, dass das Häutchen die Vagina fast oder komplett verschließt – bis zum ersten Geschlechtsverkehr. Besonders in Kulturkreisen, in denen die Jungfräulichkeit bis zur Hochzeit vorgeschrieben ist, sind deshalb sogenannte Hymenalrekonstruktionen keine Seltenheit. Bei der Operation wird der Hymen so verengt, dass er beim Geschlechtsverkehr einreißt und blutet – für viele Frauen die einzige Möglichkeit, mit dem blutigen Bettlaken auch ihre Keuschheit unter Beweis zu stellen und einer sozialen Ächtung zu entgehen.

Doch warum wird der Jungfräulichkeit eigentlich eine solch zentrale Bedeutung beigemessen? 

Die Philosophin Simone de Beauvoir beschreibt die Jungfräulichkeit als vollendete Form des Mysteriums Frau, die mal gefürchtet, gewünscht oder sogar gefordert wird. In einigen Gesellschaften fürchteten die Menschen die Macht der Frau, deren jungfräulichem Blut man schreckliche Kräfte nachsagte. So wurde beispielsweise geglaubt, in der Vagina verstecke sich eine Schlange, die den Mann beim Eindringen in den Penis beißt. Auch heute noch sind Geschichten über eine „Vagina Dentata”, also eine Vagina mit Zähnen, überall auf der Welt verbreitet. In einigen Kulturen war es deshalb üblich, dass Mädchen bereits vor ihrer Hochzeitsnacht entjungfert wurden. Dieses Ritual wurde zum Beispiel vom Stammeshäuptling oder Medizinmann oder auch vom Ehemann selbst mit Hilfe eines Knochens oder Stockes vorgenommen. (Quelle: Simone de Beauvoir – Das andere Geschlecht) 

Heute scheinen solche rituellen Vergewaltigungen unvorstellbar – werden in Teilen der Welt aber noch immer praktiziert. Laut dem BBC etwa ist es in einigen Regionen Malawis Tradition, dass Mädchen nach ihrer ersten Menstruation von erwachsenen Männern – sogenannten Hyänen – entjungfert werden. Die Männer werden von den Familien für etwa vier bis sieben Dollar engagiert, um das Ritual durchzuführen, das die Mädchen zu „guten Hausfrauen” machen und sie sexuell reinigen soll. 2016 interviewte BBC News den an AIDS erkrankten Eric Aniva. Als „Hyäne” hatte er über hundert minderjährige Mädchen vergewaltigt – trotz seiner Erkrankung und ohne Verhütung. Aniva wurde kurz darauf festgenommen, doch die Tradition besteht weiter.

De Beauvoir zufolge wird die Jungfräulichkeit in den moderneren patriarchalischen Gesellschaften jedoch nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen, sondern vielmehr als ein Zeichen der Reinheit und Unschuld. Mit der Jungfrau Maria als Idol erklärt das Christentum die Keuschheit zu einer Art Versprechen der gläubigen Frau an Gott, zu einem Weg für sie, dem Göttlichen näher zu kommen. Auch dieser Glaube kommt allerdings nicht von ungefähr, sondern ist genauso patriarchalischen Ursprungs wie Mythen über die bezahnte Vagina. Die Jungfrau ist unschuldig, unbefleckt – sie ist unentdecktes Gebiet, das sich der Mann aneignet. Anschließend präsentiert er seinen Besitz in Form des blutigen Lakens. 

Dass die Unschuld der Braut gefordert wird, hat allerdings auch ganz pragmatische Gründe: So wird sichergestellt, dass sie keine ungewollten Nachkommen mit in die Ehe bringt, die Anspruch auf das Erbe erheben könnten. Auch hier zeigt sich also: Es geht vor allem darum, Kontrolle über den weiblichen Körper zu erlangen. Indem Frauen in ihrer Sexualität eingeschränkt werden, wird Macht über sie ausgeübt. 

Das ist übrigens kein Thema des letzten oder vorletzten Jahrhunderts. Das indonesische Militär schaffte erst im August dieses Jahres eine Regel ab, laut der nur jungfräuliche Anwärter:innen rekrutiert werden durften. Rekrutinnen mussten sich dem sogenannten „Zwei-Finger-Test” unterziehen, einer unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Methode, bei der zwei Finger in die Vagina eingeführt werden, um festzustellen, ob das „Jungfernhäutchen” noch intakt ist. Sprecher des Militärs hatten die Regel zuvor noch gerechtfertigt, so der Spiegel. Soldat:innen, die schon Sex gehabt hätten, seien „naughty” und deshalb mental nicht für die Aufgaben der Armee geeignet.

Doch selbst in Kulturkreisen, in denen Sexualität kein Tabu mehr ist, fühlen sich junge Menschen durch solche Stereotype unter Druck gesetzt. Besonders weiblich gelesene Personen haben häufig Schwierigkeiten damit, sich in der allgegenwärtigen Gegenüberstellung Heilige vs. Hure nicht in eine Ecke drängen zu lassen. Allzu oft wird von ihnen verlangt, einerseits kindliche Unschuldigkeit und Reinheit, aber auch sexuelle Erfahrung und Erotik in sich zu verkörpern. Die Darstellung der naiven  Jungfrau in Filmen und Serien, die von einem älteren, erfahrenen Mann in eine neue Welt der Sexualität eingeführt wird, ist gerade deshalb besonders schädlich – wer 50 Shades of Grey gesehen hat, weiß, wovon ich spreche. 

Vor ein paar Jahren hat mir mal ein Mann gesagt, ich würde nicht gehen oder sitzen wie eine Jungfrau. In diesem Moment ist mir klar geworden, wie leer und inhaltslos dieses Wort eigentlich ist. Mal ist die Jungfräulichkeit etwas, das geschützt werden muss, mal gilt es, sie loszuwerden. Und viel zu oft wird sie als Vorwand genutzt, um bestehende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten und Frauen vorzuschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Es ist deshalb wenig verwunderlich, dass Websites wie Virginiacare einen solchen Anklang finden – Der Kampf gegen die Unterdrückung fordert manchmal eben unkonventionelle Methoden.