Über Sex reden – Mit Sexualberaterin und Sexologin Tamara Felbinger

Tamara Felbinger (35) begann ihre Karriere als Sozialpädagogin. Während ihrer Arbeit mit Mädchen in einer sozialpädagogischen Unterbringung war das Thema Sex immer wieder wichtig. Sie beschloss, eine Ausbildung zur Sexualpädagogin zu machen, und ließ sich anschließend auch noch zur Sexologin ausbilden. Eine Sexologin ist eine Beraterin in Sachen Sexualität. Nach der Geburt ihres Sohnes machte Tamara dann den Schritt in die Selbständigkeit. Im Januar 2022 gründete Tamara „vemina“, ein Gesundheitsnetzwerk von und für Frauen. Ihr ist die weibliche Sexualität im Alltag und bei ihrer Arbeit sehr wichtig. Denn allein schon über weibliche Sexualität zu sprechen, ein über Jahre hinweg totgeschwiegenes und stigmatisiertes Thema, stellt für Tamara eine politische und notwendige Handlung da.

Hallo Tamara, dann steigen wir mal in das angeteaserte Thema ein. Wird über Sex gesprochen?

Ja und Nein. Ich sehe da zwei Ebenen. Einerseits reden wir über Sex. Immer, überall und andauernd. Im Fernsehen, den sozialen Medien, in Hollywood-Filmen und in der Pornografie. Alle reden über Sex. Sexualität ist überall und überschwappt uns teilweise. Dadurch produzieren wir ein Bild, das gar nicht der Realität entspricht. Meiner Erfahrung nach entsteht eine Blase: Einerseits kann man über Sexualität lesen, reden, sie anschauen, man kann sie sogar angreifen. Andererseits entsteht eine Informationsblase. Ich habe das Gefühl, durch diese mediale Sexualisierung trauen sich junge Menschen noch weniger als früher, realistische Fragen zu stellen. Dieses Gefühl, das wissen eh alle, ist stärker und deswegen ist die Angst noch größer, ernste Fragen zu stellen.

Was sind ernste Fragen, über die wir mehr sprechen sollten?

Es klingt immer so trocken, aber ich finde die biologischen Fakten ganz zauberhaft. Da geht es darum, was der Körper hat und was er kann. Also wie ist das eigentlich mit der Periode? Oder mit dem Jungfernhäutchen? Tut es bei dir auch weh? In der Beratung kommen sehr viel Frauen wegen Schmerzen zu mir. Da sehe ich ganz viel Potential in der Gruppentherapie. Natürlich scheuen sich viele davor. Aber in der Gruppentherapie hören sie dann von anderen Frauen, die ähnliche Probleme haben. Das ist viel wertvoller, als wenn ich ihnen das als Expertin bloß sage.

Bemerkst du einen Unterschied, wie verschieden Generationen mit dem Thema Sexualität umgehen?

In der Beratung merke ich, die Jugendlichen reden zwar viel, aber es gibt wenig korrekte Informationen. Da sehe ich das Problem auch ganz stark in der schulischen Bildungsarbeit, aber da können wir später noch zu kommen. Bei Menschen meiner Generation wird wiederum viel geschwiegen. Bei vielen Paaren verstummt das Thema Sexualität einfach oder rückt in den Hintergrund. Ein kleiner Lichtblick ist die Generation 20 plus. Hier ist mehr Offenheit und Reflexivität erkennbar. Das Thema Sex und Sexualität als Lebensqualität erhält einen höheren Stellenwert, Stichwort: Sex-positive.

Reden wir mal über die Schule, lernen wir dort, über Sex zu reden?

Schule heißt lernen und darum gehört Sexualkunde für mich auch definitiv in den Unterricht. Aber meiner Meinung nach sollten das professionalisierte Institutionen übernehmen. Oft landet die Sexualkunde einfach bei den Biologie Lehrern und Lehrerinnen. Die geben natürlich ihr Bestes, haben aber oft gar keine sexualpädagogische Ausbildung.  

Von ausgebildeten Sexualpädagogi:innen können Schüler:innen ganz viel Sprache erlernen. Dadurch bekommen sie auch konkrete Worte, um ihre eigene Sexualität zu beschreiben. Zum Beispiel: Was ist der Unterschied zwischen sexueller Erregung und Lust? Oder welche Begriffe gibt es für meine Genitalien? Das hilft dann alles später, um über Sex zu sprechen.

Also bildungstechnisch ist noch viel Luft nach oben im deutschsprachigen Raum. Ich erfahre auch immer wieder, dass Schulen sehr mit sich kämpfen. Informieren sie Eltern vor dem Sexualkunde-Unterricht oder nicht? Oft werden die Kinder dann nämlich krank gemeldet oder nicht zur Schule gebracht.  

Mal abgesehen von der Schule, wo lernen wir noch, über Sex zu sprechen?

Da spielt sicher die eigene familiäre Herkunft eine ganz große Rolle. Auch Kinder haben bereits eine Sexualität, wenn auch eine kindliche, die nicht mit der erwachsenen Sexualität vergleichbar ist. Die kindliche sexuelle Entwicklung und wie damit umgegangen wird, beeinflusst uns im Erwachsenenleben. Es ist hilfreich, sich mal daran zu erinnern, wie in der Herkunftsfamilie mit Sexualität umgegangen wurde.

Gab es Nacktheit in der Familie? Habe ich meine Eltern nackt gesehen? Habe ich meine Eltern mal erwischt und war das hinterher Thema? Ganz klassisch, was für Worte habe ich als Kind für meine Genitalien verwendet?

Ein weiterer Punkt ist die Kultur. Unbewusst oder bewusst gibt einem der Kulturkreis ganz viele Regeln mit. Wie darf ich über Sexualität reden? Dürfen die Geschlechter unterschiedlich über Sexualität reden? Darf ich als Frau lustvoll sein? Darf ich als Mann lustvoll sein? Normen, Glaubenssätze, all das beeinflusst auch unsere Sprache.

Apropos Sprache, mir fällt es zum Beispiel leichter, auf Englisch über Sex zu sprechen. Was hältst du von der deutschen Sprache im Bezug auf Sexualität?

Ich finde die deutsche Sprache eigentlich gar nicht schlecht, weil sie uns sehr differenzierte Begriffe bietet. Was die deutsche Sprache kann und andere Sprachen nicht, ist ja das Zusammensetzen von Wörtern.

Ich arbeite zum Beispiel in ein paar Workshops mit Afghaninnen zusammen. Bei den Übersetzungen fällt mir auf, es fehlen diese differenzierten Begriffe. Zum Beispiel für die weiblichen Genitalien. Da gibt es ja Unterschiede zwischen Vagina, Vulva und Gebärmutter. Aber da steigen die meisten Dolmetscherinnen dann aus. Je weniger wir über Sex sprechen, desto weniger Worte stehen uns zur Verfügung. Umgekehrt können aber auch neue Worte geschaffen werden. Jahrelang wurden die weiblichen Genitalien Scheide genannt. Eine Scheide ist ja etwas sehr Passives, da wird etwas hineingesteckt. Inzwischen hat sich die Sprache verändert. Jetzt können wir sogar zwischen Vulva, also dem äußeren und Vagina, dem inneren Genital unterscheiden. Was mir allerdings noch fehlt, ist ein Begriff, der das ganze Paket beschreibt.

Wenn ich über Sex rede, stehe ich immer vor dem Problem, dass ich in eine von zwei Kategorien falle. Entweder klinge ich, als würde ich aus einem Biologie-Textbuch vorlesen, oder als wäre ich aus einem Porno gefallen.

Das liegt daran, dass wir immer noch nicht richtig lernen, über Sex zu sprechen. Über Sex zu reden, ist ein bisschen wie Fahrradfahren. Man muss es üben. Die ersten 15 Male, wo man Vulva, Vagina, Penis oder Hoden sagt, wird man vielleicht rot, aber es wird einfacher. Dass diese Begriffe so ungewohnt klinisch klingen, ist also reine Übungssache.

Wenn über Sex sprechen wie Fahrrad fahren ist, was gibt es denn dann für Stützräder?

Das eine ist die Auseinandersetzung mit sich selbst. Man kann sich überlegen, was mag ich eigentlich im Moment gerne? Was fühlt sich gut an und was nicht? Ich nenne das immer die Sex-Torte. Diese Torte hat unterschiedlich große Stücke, manche schmecken besser als andere. Es kann sein, dass das Tortenstück Geschlechtsverkehr ganz klein ist aber Selbstbefriedigung ganz groß. Wenn ich weiß, was ich will, dann bin ich einen Schritt näher daran, auch darüber zu sprechen.

Dann ist es auch wichtig, dass die eigene sexuelle Erregung nie die Aufgabe des Partners ist. Ich bin immer selbst dafür verantwortlich, dass mir der Sex gefällt. Das nenne ich Verführungskompetenz. Ich muss wissen, was mir gefällt und mir das über Verführung, über den Einsatz von meinem Körper oder von Worten holen können. Das sind sehr hohe Kompetenzen, die manche Menschen verlernt haben.

Wie ist das mit dem Schamgefühl. Inwiefern kommt uns das in die Quere?

Da muss man ein bisschen die eigenen Grenzen ausloten. Ich habe viele Frauen in der Beratung, die sagen “ich habe gar keinen Bock, so viel über mein Sexleben preiszugeben. Aber ich habe das Gefühl, weil ich mich in diesen offenen Kreisen bewege, muss ich schon fast.” Oder “ich habe gar keine Lust auf sexpositive Partys zugehen, bin ich jetzt keine Feministin?” Das hat natürlich gar nichts mit Scham zu tun, sondern einfach mit der eigenen Grenze. Tatsächlich ist Scham in diesem Punkt nicht unbedingt relevant. Wenn wir darüber sprechen, uns zu schämen, sind wir oft dabei die eigenen Grenzen zu erkunden.

Scham selbst ist nicht unbedingt etwas Negatives, er schützt uns auch. Ein bisschen hat das auch alles mit Talent zu tun. Die einen können gut über Sex reden, dafür können andere besser Eislaufen.

Zu guter Letzt: Warum sollten wir über Sex sprechen?

Man gewinnt natürlich schon sehr viel, wenn man ehrlich über Sexualität spricht. Man lernt sehr viel über die eigene Realität und die Realität der anderen. Wenn ich nur von den Medien oder von Pornografie ausgehe und übrigens bei Kindern kann ich davon ausgehen, dass sie ab neun Jahren alle Pornografie gesehen haben, dann bekomme ich ein ganz verzerrtes Bild. 

Vor allem die männliche Pornografie funktioniert in den meisten Fällen sehr schnell, sehr hart, mit unfassbar viel Lust der Frau. Oralverkehr, Geschlechtsverkehr vorne und hinten und eine Ejakulation meist außerhalb der Vagina, am Besten der Frau ins Gesicht. Hollywood-Sexualität funktioniert dafür mit ganz argen Gefühlen. Also man ist so stark verliebt, man reißt sich die Kleider vom Leib und bevor man noch im Bett landet, muss man 15 Mal Sex haben. 

Die Realität ist bei Jugendlichen ganz anders, weil das eher Stress macht, sich vorzustellen, “jetzt habe ich mein erstes Mal vor mir und muss schon über Analverkehr nachdenken”. Ich erfahre immer wieder, dass Kinder und Jugendliche mit Themen wie Anal- oder Oralverkehr hadern. Aber nicht aus einer leichtsinnigen Neugierde, sondern aus einem Druck heraus. Auch im Erwachsenenalter arbeite ich ganz viel mit Menschen, die unter Druck stehen. Wieviel Sex muss ich in einer Langzeitbeziehung haben? Ist es in Ordnung auch mal keine Lust zu haben?  Also auf einer ehrlichen Basis über Sex zu sprechen, ob jetzt in der Partnerschaft, im Bildungsbereich oder mit Freunden und Freundinnen, bringt uns Realität und das ist, glaube ich, der wichtigste Punkt.

Franziska Balzer

Franziska studiert Journalistik in Hannover. Für Canapé schreibt sie übers Erwachsenwerden und Intimität. Franziska interessiert sich für Politik und Literatur und ist besonders fasziniert von Autoren, deren Leben noch spannender waren als ihre Geschichten.

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