„Die Werke von Frauen geraten in Vergessenheit. Das gilt für Schriftstellerinnen genauso wie für Komponistinnen, Malerinnen und alle anderen Künstlerinnen. Sie geraten in Vergessenheit, weil so wenig dafür getan wird, dass sie in Erinnerung bleiben.“ Dieses Zitat aus Nicole Seiferts Buch Frauen Literatur – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt zeigt die immer noch bestehende Misogynie innerhalb der Kunstszene.
Man könnte meinen, dass die Zeiten des Vergessens vorbei seien und dass sich weiblich gelesene Autor:innen im Literaturbetrieb in jedem Sinne auf Augenhöhe mit den männlichen Kollegen befinden. Doch dass hier noch immer sexistische Ungerechtigkeiten existieren, ist vielen Menschen nicht bewusst. Mir hat Nicole Seiferts Buch dahingehend die Augen geöffnet und das, obwohl ich unter anderem seit fast zwei Jahren Deutsche Sprache und Literatur in Köln studiere. Ich heiße Lisa, bin 21 Jahre alt und würde mir im Studium klare Worte über die Benachteiligung von nicht-männlichen Personen im Literaturkontext wünschen. Doch dort finde ich sie nicht.
Was ist eigentlich das Problem?
Um konkret zu erfahren, was die derzeitigen Probleme im deutschen Literaturbetrieb sind, habe ich mich mit Svenja Reiner und Sonja Lewandowski getroffen. Die beiden sind unter anderem die Leiterinnen des Insert Female Artist Festivals, einem interdisziplinären feministischen Literaturfestival in Köln, das sich vor allem mit der vergangenen und gegenwärtigen Lage von weiblich gelesenen Autor:innen und Künstler:innen auseinandersetzt. Zum ersten Mal fand das Festival 2019 statt. Allerdings setzen sich die beiden schon länger darüber hinaus aktiv gegen Diskriminierung in der Literaturbranche ein und finden klare Worte für die Diskriminierung, die Frauen in diesem Betrieb schon sehr lang erfahren. Seitdem sie mit der gemeinsamen Arbeit angefangen haben, sieht Sonja eine gewisse Entwicklung innerhalb dieser Problematik: „Wir haben 2018 angefangen. Man kann schon sagen, dass sich seitdem viel getan hat. Was damals so war und schon sehr lange ist, ist dass es eine sehr männlich dominierte literarische Kultur gibt. Und gerade der (Gegenwarts-) Literaturbetrieb, wie wir ihn heute kennen, ist sehr männerdominiert. Das äußert sich an verschiedenen, bzw. an allen Stellen. Beispielsweise wenn man sich Verlagsvorschauen anguckt und wie Berit Glanz und Nicole Seifert unter dem Hashtag #vorschauenzählen erhebt, wie es um die Geschlechterverteilung der aktuellen Saison bestellt ist. Vor allem in den großen Publikumsverlagen zählt man in der Regel mehr Autoren als weiblich gelesene Autor:innen. Das zieht sich dann so weiter bis ins Feuilleton, in die Literaturkritik, die einen sehr starken ‚male gaze‘ fährt, bis zu den Besprechungen, wo eben auffällt, dass Bücher von Autoren viel häufiger rezensiert werden als Bücher von Autorinnen.“
Berit Glanz und Nicole Seifert sind im Übrigen zwei Literaturwissenschaftlerinnen und Autorinnen, die sich wie Sonja und Svenja aktiv gegen sexistische Praktiken im Literaturbetrieb einsetzen. In kritischen Texten und Interviews und durch ihre aktive Teilnahme an Twitterdiskursen wehren sie sich gegen den ‘male gaze’, also gegen die Darstellung von Frauen und der weiblichen Welt aus einer cis-männlichen heterosexuellen Perspektive.
(Un)Sichtbarkeit der Diskriminierungsformen
Ein anderer in diesem Zusammenhang sehr bekannter Hashtag ist #frauenzählen. Dahinter verbirgt sich eine Studie der Universität Rostock aus dem Jahr 2018. Sie bestätigt das, was Sonja bereits angedeutet hat. In Printmedien wurden zum Zeitpunkt der Studie zu 65 Prozent männliche Autoren besprochen, Frauen dagegen nur zu 35 Prozent. Die Studie zeigte außerdem, dass männliche Kritiker zu 74 Prozent Autoren rezensierten, während weibliche Kritikerinnen fast gleichwertig sowohl Autoren als auch Autorinnen behandelten. Warum weiterhin so wenig auf dieses Ungleichgewicht geachtet wird, formuliert Svenja folgendermaßen: „Ich glaube, dass einem das nur auffällt, wenn man anfängt über das zu sprechen, was einem komisch vorkommt. Wir leben ja im Patriarchat und dessen kulturell männlich geprägte Normen sind so lange unsichtbar, weil wir uns an sie gewöhnt haben, mit ihnen aufgewachsen sind. Als wir zum Beispiel in die Schule gegangen sind, hat sich wahrscheinlich niemand im Unterricht gemeldet und gesagt: ‘Warum lesen wir denn lauter Texte von Männern – außer vielleicht von Ingeborg Bachmann?’ Um Tokenfiguren zu erkennen und sich dieser Strukturen bewusst zu werden, braucht es Gespräche und Austausch, aber auch Forschung und Zahlen darüber.“
Studien wie #frauenzählen tragen aktiv dazu bei, den Diskurs anzuregen und diese schwerwiegenden Problematiken zur Sprache zu bringen. Patriarchale Verhältnisse gehören seit jeher zur Normalität und es gilt, diese klar und fassbar zu machen. Nur so kann sich etwas verändern.
Aber unsere Literaturszene ist doch weiblich, divers und queer… oder etwa nicht?
Nicht zuletzt durch Seiferts Buch wurde mir die Misogynie innerhalb der Literaturbranche, wie sie auch von Sonja und Svenja beschrieben wurde, bewusst. Das ist ein Grund, warum ich mich im vergangenen Jahr besonders über Debütromane wie die von Mithu Sanyal mit Identitti, Sharon Dodua Otoo mit Adas Raum oder Hengameh Yaghoobifarah mit Ministerium der Träume gefreut habe. Alle drei Romane habe ich verschlungen und habe daraufhin Literaturveranstaltungen der Autor:innen besucht. Vor allem innerhalb dieser Veranstaltungen wurde vermehrt die Ansicht vertreten, dass der deutsche Literaturbetrieb mittlerweile sehr divers und queer geworden sei. Doch Svenja, rückt sie diese Wahrnehmung in ein deutlich kritischeres Licht: „Natürlich ist es gut, dass diese Autor:innen da sind. Und der Umstand, dass diese Debüts gerade Aufmerksamkeit erfahren, hat einfach viel mit der sichtbaren und unsichtbaren Arbeit zu tun, die in den letzten Jahren hinsichtlich dieser Debatten geleistet wurde. Darüber hinaus muss man nun natürlich schauen, dass genau solche Aufmerksamkeitsräume nicht als als Moden oder Trends verkommen, sondern dass nachhaltig Plätze für vielfältige Autor:innen im Literaturbetrieb geschaffen werden. Wenn man sich beispielsweise die feuilletonistische Rahmung von Hengameh Yaghoobifarah oder Sharon Dodua Otoo anguckt, dann fällt dort immer noch das merkwürdige Label ‚Migrant:innenliteratur‘ – eine Kategorie, die gar nicht ästhetisch oder inhaltlich informiert ist, sondern sich auf die vermeintliche Herkunft der Autor:innen bezieht. Hier schwingt immer noch eine ‚Otherness‘ mit: Hier wird unterschieden zwischen ‚deutscher’ Literatur und ‚den Anderen’. Anzeichen für eine nachhaltige Veränderung des Literaturbetriebs wäre dann zum Beispiel: Mehr Einfluss von PoC Autor:innen, Vermittler:innen, Jurymitgliedern im Betrieb. Wie verändert sich durch diese neuen literarischen Vorbilder die Studierendenschaft an den Ausbildungsinstitutionen für literarisches Schreiben – in Hildesheim oder in Leipzig oder vielleicht auch in Köln? Uns ist es wichtig, nicht bei einzelnen Token stehenzubleiben, dass nicht immer dieselben drei Personen nach vorne geschubst werden, wenn es heißt, dass der Betrieb nicht divers genug ist. Wir brauchen eine neue Normalität.“
Die Suche nach Verbündeten
Da ich selbst Deutsche Sprache und Literatur studiere, beobachte ich den heteronormativen cis-männlichen Kanon immer wieder. Im Studium nicht aktiv Literatur von Frauen zu lesen, ist leicht. Es werden etliche Kurse zu Kafka, Fontane, Kleist oder Goethe angeboten. Ein Seminar, das sich allein mit der Literatur einer Frau beschäftigt, habe ich bis dato noch nie gefunden. Als ich Sonja frage, ob und wie ich mich gegen den klassischen Kanon des akademischen Gedächtnisses wehren kann, spricht sie von Empowerment: „Ich glaube, dass es immer unbewusste Strukturen sind, die da agieren. Und wenn dann zum Beispiel aus der Popliteratur wieder nur die Autoren im Seminar gelesen werden, die immer gelesen werden, sollte man die Dozent:innen sofort darauf aufmerksam machen, hingehen und sagen: ,Moment mal, wieso werden denn hier nur Männer gelesen?’ Ich habe das selbst im Studium auch manchmal gesagt und dann wurde immer eine Frau dazwischengeschoben. Meistens gab es die gleichen Frauen, die gelesen wurden. Ich würde das zudem an die Koordination der Studiengänge weitergeben. Außerdem sollte man sich da zusammentun und die eigenen Anliegen mit Debatten unterfüttern, die im Feuilleton und auf Twitter geführt werden.” Sonja betont, dass die Universität auch nur einer von vielen Bildungswegen sei. Dieser ist, wenn es um die Auflehnung gegen Diskriminierungsformen geht, etwas verstaubt. Es geht aber viel leichter: „Wenn man sich auf Twitter oder Instagram umschaut, dann merkt man schon, dass die Debatten da anders geführt werden und dass da ein anderer Fokus auf Gegenwartsliteratur und Erinnerungskultur gelegt wird. Gerade über Twitter werden diese Debatten überhaupt angestoßen. Da finden sich die Leute, die diese Debatten leiten. Eine Portion Aktivismus ist immer wichtig, auch während des Studiums.“
Eine Portion Aktivismus auf Twitter
Auch hier merke ich wieder, dass der gemeinsame Austausch im Fokus steht. Über die Ungerechtigkeiten sprechen, ob in der Universität oder den sozialen Medien – darauf kommt es an. Und wo wir schon beim Stichwort Twitter sind. In den vergangenen Jahren gab es weitere Aktionen, die auf Diskriminierung in der Literaturbranche aufmerksam machten und geradezu polarisierten, wie zum Beispiel den Hashtag #dichterdran, so Sonja: „#dichterdran war eine Aktion bei Twitter. Autorinnen erfahren eine bestimmte Literaturkritik, in der sie häufig objektiviert, verniedlicht oder trivialisiert werden. Das wurde in dieser Aktion umgedreht und auf etablierte Dichter bezogen. Auf einmal stand zum Beispiel die glänzende Glatze von Ernst Jandl im Zentrum eines Tweets einer inszenierten Literaturkritik. Eine Aktion, um auf den ,male gaze’ in Literaturkritiken aufmerksam zu machen. Diese Trivialisierung ist noch immer extrem – gerade bei Autorinnen, die mit Kinder- und Jugendliteratur oder mit vermeintlich trivialen Texten und nicht mit der sogenannten Hochkultur verknüpft werden.“ Was diese Aktion vor allem aufgezeigt, ist ein bestimmtes stigmatisiertes Vokabular, dem weiblich gelesene Autor:innen in Kritiken häufig unterliegen. Dies führt Sonja weiter aus: „Aufs Große bezogen haben Frauen ein Autoritätsproblem, denn wenn sie Autorität genießen, ist es häufig als die Mutterfigur. Das hat man ganz gut an Merkel gemerkt, die dann nur die Mutterrolle bekommen hat und damit erstmal nur Autorität gewinnen konnte. Aber das so auf die Literatur herunterzuziehen, finde ich ganz spannend. Dann gibt es bestimmte Framings, wie Verniedlichung. Zum Beispiel war das bei Sally Rooney der Fall. Dass sie ‚scheue Rehaugen‘ ihrem Autorinnenfoto habe, war damals eine Literaturkritik, gegen die sich viele aufgelehnt haben und an der sich die #dichterdran-Aktion entzündet hat.“
Der rote Faden, der sich durch das Gespräch zieht, ist der ständige Verweis darauf, gemeinsam laut gegen jegliche Diskriminierungsformen zu werden. Twitter scheint dabei eine von vielen Möglichkeiten zu sein. Aber auch Twitter ist nicht immer ideal. Auch hier gibt es verschiedene Bubbles, und die akademisch geführten Debatten, die dort ausdiskutiert werden, sind noch längst nicht alle in der Gesellschaft angekommen.
Butter, Mehl und ein Rezept zur Umsetzung
Es gibt also keinen prototypischen Weg, sich aktiv gegen Ungerechtigkeiten in der Literaturbranche aufzulehnen, wie Svenja erläutert: „Wir können Tipps aus unserer Praxis geben, was wir gelernt haben, aber es ist auch wichtig, eine eigene Praxis zu entwickeln. Rezepte schreiben hilft beim Arzt, aber selten bei komplexeren Themen wie antirassistischer oder diskriminierungssensibler Arbeit. Wir wollen euch empowern, auch selbst solche Dinge auszuprobieren.“
Wer einen Kuchen backen will, braucht verschiedene Zutaten. Mehl und Zucker allein helfen nicht viel, aber alle Bestandteile zusammen ergeben mit richtiger Handhabung und Mitteln etwas total Leckeres. Vielleicht haben mir Svenja und Sonja mehr oder weniger ungewollt doch ein Rezept für eine praktische Umsetzung antidiskriminierender Arbeit gegeben – und zwar gemeinsam laut zu werden.