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Sozialer Pflichtdienst? Nein, danke!

Bildquelle: Unsplash

Alle Jahre wieder steht die Idee im Raum, junge Erwachsene zu sozialer Arbeit zu verpflichten. Das ist zynisch und bevormundend, findet unsere Autorin Karla Dietz. Sie schlägt vor: Wie wäre es stattdessen mit einem Pflichtdienst für Millionär:innen?

Egal ob Rente mit 70, 42-Stunden-Woche oder Pflichtdienst: Wenn jemand eine Idee hat, die so ziemlich niemand toll findet, dann muss diese natürlich sofort in Betracht gezogen werden. Die deutsche Politiklandschaft lässt dann alles stehen und liegen. Sie und diskutiert zielsicher über die Köpfe derer hinweg, die es eigentlich betrifft. In diesem Fall Menschen, die im öffentlichen Diskurs noch keine Stimme haben: Kinder und Jugendliche.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stieß die Debatte kürzlich in einem Zeitungsinterview an. Er schlug vor, man könnte ja über die Einführung einer Pflichtzeit im sozialen Bereich oder bei der Bundeswehr diskutieren. Diese könne “besonders wertvoll” sein, Vorurteile abbauen und den Gemeinsinn stärken. Man komme “raus aus der eigenen Blase”.

Steinmeiers Vorschlag ist nicht neu

Seit Abschaffung der Wehrpflicht und des Zivildienstes im Jahr 2011 kommt immer mal wieder jemand auf die Idee, man müsse die Zeit und Arbeitskraft junger Menschen gewinnbringend für die Gemeinschaft einsetzen. Im Zuge dessen regnet es Tweets und Meinungsbeiträge von Boomern, “denen der Zivildienst ja auch nicht geschadet hätte”. Diese sind häufig gepaart mit der häufigen Unterstellung, Jugendliche würden zu viel auf der faulen Haut liegen und müssten der Gesellschaft “mal etwas zurückgeben”. Es gibt ja schließlich kein Anrecht auf ein Work-and-Travel-Jahr in Australien, oder? Nö. 

Dennoch kein Wunder, dass Steinmeiers Vorschlag aus den verschiedensten politischen Lagern vor allem Gegenwind bekommt. Er geht an der Lebensrealität junger Menschen vorbei, trieft vor Zynismus und boomeriger Anspruchshaltung und kommt zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. In der Pandemie waren und sind Jugendliche mit die größten Leidtragenden und haben ihre Bedürfnisse zu Gunsten älterer Menschen zurückgestellt. Neoliberale Wirtschaftspolitik, unbezahlbarer Wohnraum und mangelnde Investitionen in soziale Bereiche haben darüber hinaus ihr Übriges dafür getan, dass junge Menschen vor einer ziemlich ungewissen Zukunft stehen. Von der Bedrohung durch die Klimakrise ganz zu schweigen. Kein Wunder, dass Jugendliche sich von der Politik unverstanden und nicht gehört fühlen: Steinmeiers Vorstoß ist dafür die traurige Bestätigung.

Flicken für das Gesundheitssystem

Aufgrund von katastrophalen Arbeitsbedingungen und Personalmangel streikt das Klinikpersonal von Krankenhäusern in NRW nun seit einigen Wochen. So ganz zufällig wirkt es nicht, dass die Idee mit dem sozialen Pflichtdienst gerade jetzt zur Sprache kommt. Anstatt Pflegekräfte anständig zu entlohnen und soziale Berufe somit attraktiver zu machen, ist es doch viel einfacher, einen Haufen Abiturient:innen dazu abzukommandieren, für einen niedrigen Lohn in sozialen Einrichtungen zu schuften. So sollen sie all die Lücken und Risse im Gesundheitssystem flicken, die der Abbau des Sozialstaates in den letzten zwanzig Jahren hervorgerufen hat. An diesem Sozialstaatsabbau war unser Bundespräsident übrigens nicht ganz unbeteiligt:  Frank-Walter Steinmeier war einer der Architekten der umstrittenen Agenda 2010-Reformen, die eine Ausweitung des Niedriglohnsektors zufolge hatten und arme Menschen durch die Hartz-Gesetze in eine noch prekärere Lage brachten.

Der Gedanke, dass junge Menschen im Falle eines Pflichtdiensts als billige Arbeitskräfte ausgebeutet werden könnten, liegt ein wenig zu nahe, um angenehm zu sein. Dabei engagieren sich schon jetzt circa 100.000 junge Menschen jedes Jahr als Freiwilligendienstler:innen in Krankenhäusern, Kitas oder Altenheimen. Dafür bekommen sie keinen Lohn, sondern ein Taschengeld von maximal 423 Euro im Monat. Jugendliche, die keine wohlhabenden Eltern haben, können sich damit also möglicherweise gar nicht über Wasser halten. Denkt man über eine Pflichtzeit nach, sollte die Einführung des Mindestlohns für Freiwilligendienstler:innen also ganz oben auf der Liste stehen. Die Milliardensumme, die jedoch für einen allgemeinen Pflichtdienst aufzubringen wäre, ließe sich viel besser für Arbeiter:innen im sozialen Bereich einsetzen, die für ihren Job geschult sind und ihn freiwillig ausüben.

Neue Anreize schaffen?

Es gibt also viele Argumente gegen eine Pflichtzeit. Davon abgesehen, dass junge Menschen sich ohnehin schon für soziale Projekte engagieren, ist diese Forderung in Anbetracht des kollektiven Versagens der älteren Generation in Bezug auf Klimakrise und Pandemie ziemlich unverhältnismäßig. Das Argument der individuellen Freiheit greift zwar nicht so sehr, wenn man bedenkt, dass die Schulpflicht streng genommen auch ein Eingriff in die individuelle Freiheit ist. So könnte ein Pflichtjahr durchaus als Ausweitung der Schulbildung verstanden werden. Dennoch ist der Vorschlag realitätsfern. Um einen Pflichtdienst durchzuboxen, bräuchte es eine Änderung des Grundgesetzes, das es bisher verbietet, Menschen zur Arbeit zu zwingen. (Aber indirekten Zwang gibt es natürlich auch, das weiß Herr Steinmeier ziemlich genau: zum Beispiel durch die Hartz-IV-Reformen). 

Das Vorhaben der Ampel, Anreize zur Freiwilligenarbeit zu schaffen und die Angebotsvielfalt auszubauen, ist da schon viel sinnvoller. Eine Pflichtzeit hingegen – für alle, die mal aus ihrer Blase heraustreten wollen – könnten wir Herrn Steinmeier selbst ans Herz legen. So ein kleiner Step aus dem Schloss Bellevue hinaus und für ein paar Schichten auf der Intensivstation ackern. Nicht nur Bundespräsidenten, sondern alle Menschen seiner Einkommensklasse könnten davon profitieren! Vielleicht kommt dann auch das obere Prozent mal auf die Idee, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. 

Über eine Pflichtzeit für alle jungen Menschen können wir dann nachdenken, wenn unsere Stimmen von der Politik gehört worden sind. Wenn Berufe im sozialen Bereich wieder die Anerkennung bekommen, die sie verdienen (und das nicht nur in Form von Applaus), und wenn auch ohne eine Verpflichtung mehr Anreize für soziales Engagement geschaffen worden sind. Bis dahin sollten wir als junge Generation unsere Lebenszeit so gestalten können, wie wir es für richtig halten.

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