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Vom Arbeiterkind zur Akademikerin

Ein Hammer und mehrere krumme Nägel, die schief in ein Brett geschlagen wurden.
Bildquelle: Pexels

„Du armes, bemitleidenswertes Kind“, sagt meine Mutter mit einem ironischen Unterton, als ich ihr erzähle, dass ich einen Beitrag über mein Leben als Arbeiterkind schreiben werde. Fakt ist, ich bin ein Arbeiterkind, wobei ich das Gefühl habe, dass der Begriff schon etwas negativ konnotiert ist. Ähnlich wie meine Mutter nutze ich ihn hauptsächlich, wenn ich einen Witz darüber mache.

Meine Eltern besuchten beide damals noch die Hauptschule, begannen mit 15 Jahren eine Ausbildung und verdienten somit früh ihr eigenes Geld. Ich selbst bin einen anderen Weg gegangen als meine Eltern und befinde mich mitten in meinem Bachelorstudium. Mein Weg dahin war durchwachsen, aber ob man das darauf schieben kann, dass ich das Kind einer Arbeiterfamilie bin – ich weiß es nicht. Fakt ist aber, nur 15 von 100 Kindern von Eltern ohne Studium absolvieren ein Bachelorstudium, das hat der Hochschulbildungsreport 2020 veröffentlicht. Bei Kindern von Eltern mit Studium sind es ganze 63 und das ist nicht gerade ein kleiner Unterschied.

Bevor es ans Studieren geht, müssen wir aber natürlich alle erst einmal in die Schule gehen. Und da fängt nun mal jeder in der Grundschule an, ohne jegliches System der Unterscheidung, wie man es später hat. Dann kommt irgendwann die vierte Klasse und deine Noten entscheiden, wie es für dich weitergehen soll.

Deine Klassenlehrerin und deine Eltern sind normalerweise aber nicht ganz unbeteiligt an dieser Entscheidung. Mein Notendurchschnitt war damals gut genug für das Gymnasium, sogar besser als der meiner besten Freundin, die auf ein Gymnasium geschickt wurde. Ihre Eltern haben beide Abitur und studiert. Aber meine Mutter beschloss mich auf eine Realschule zu schicken – ich sei zu faul für das Gymnasium.

Nur 44 von 100 Kindern von Eltern ohne Studium gehen auf ein Gymnasium. Bei Kindern von Eltern mit Studium sind es 78.

Wurde ich also deshalb nicht auf ein Gymnasium geschickt? Weil meine Eltern das vielleicht nicht für nötig hielten, weil sie es selbst nicht erlebt haben?

Oder war ich wirklich zu faul? Damals war ich doch ein wenig sauer und enttäuscht über die Entscheidung meiner Mutter. Heute würde ich sagen, dass meine Mutter wahrscheinlich recht hatte. Ich war wirklich faul und habe immer nur das Nötigste gemacht. Auf der Realschule bewegte ich mich schließlich irgendwo im Leistungs-Mittelfeld, war ganz gut in einigen Fächern, während ich in Mathe und Chemie komplett versagte. Irgendwie kam ich durch, auch mit Hilfe meiner Eltern, die mir fleißig Mathenachhilfe bezahlten. Am Ende machte ich eine beinahe sehr gute Mittlere Reife. 

Die meisten meiner Mitschüler*innen fingen direkt nach dem Abschluss eine Ausbildung an. Ich selbst fühlte mich nicht bereit, mit 15 Jahren über meine berufliche Zukunft zu entscheiden und so entschied ich mich dafür noch länger zur Schule zu gehen. Ich meldete mich auf einer Fachoberschule an und strebte erst mal die Fachhochschulreife an. Soweit so gut. Meine Eltern unterstützten mich, zahlten mir wieder Mathenachhilfe, die tatsächlich half, und ich machte ohne größere Probleme mein Fachabitur.

Nun war ich 17 Jahre alt und immer noch nicht bereit, über meine berufliche Zukunft zu entscheiden. Also entschied ich mich noch ein Jahr zur Schule zu gehen und das allgemeine Abitur zu machen. Zu meiner Zeugnisverleihung kam nur noch meine Mutter. Der Rest meiner Familie hielt es wohl nicht mehr für nötig – es war ja immerhin schon meine Dritte.

Aber das war irgendwie in Ordnung so, denn auch wenn das Abitur mein bisher höchster Abschluss war – die Aufregung und die Freude über den Schulabschluss ist beim dritten Mal irgendwie nicht mehr so intensiv. Das Abitur war für mich eher ein Mittel zum Zweck. Ich wollte es hinter mich bringen, um mit anderen Dingen und vor allem auch meinem Studium beginnen zu können.

Meine Eltern haben mich nie dazu gedrängt, eine Ausbildung zu machen. Sie haben mich aber auch nie dazu gedrängt zu studieren oder Abitur zu machen. Ich hatte Klassenkamerad*innen in der Grundschule, bei denen aber genau das der Fall war, und darauf war ich wirklich nicht neidisch. Mittlerweile bin ich fast fertig mit meinem Studium und werde dann eines dieser 15 Arbeiterkinder mit Bachelorabschluss sein.

Ich fühle mich dadurch schon ein bisschen besonders, hoffe aber gleichzeitig die Statistik mit meinem Abschluss ein wenig nach oben bringen zu können. Es wird auf jeden Fall ein Abschluss sein, denn ich wieder mit viel Aufregung und Freude feiern werde.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Eltern wollen, dass ich bald im Arbeitsleben stehe und mein eigenes Geld verdiene, anstatt weiter zu studieren. Direkt gesagt haben sie das nie, es ist nur ein Gefühl. Ein Gefühl, das auch daher kommen könnte, dass meine Eltern, die nun mal unweigerlich meine ersten Vorbilder im Leben waren, seit sie 15 Jahre alt sind, Geld verdienen und ich mit 22 Jahren noch auf ihre finanzielle Unterstützung angewiesen bin.

Trotzdem haben sie mich nie gedrängt und ich denke, sie erkennen auch an, was ich tue. Direkte Komplimente und Lob haben in meiner Familie noch nie eine sonderlich große Rolle gespielt. Aber meine Eltern lassen mich zu 100% mein Ding machen, weil sie wissen, dass ich meine Sache gut mache und meinen eigenen Weg gefunden habe.

Der Weg zu meinem nun fast abgeschlossenen Studium war nicht der geradlinigste und vielleicht wäre alles anders gewesen, hätte mir mein Elternhaus mehr schulischen Ehrgeiz vermittelt. Aber vielleicht wäre ich auch daran zerbrochen, weil Schule nun mal nicht so mein Ding war.

Ich bin in einer wahnsinnig privilegieren Situation, weil ich Eltern habe, die mich unterstützen und sich das auch finanziell leisten können. Als „armes bemitleidenswertes Arbeiterkind“ sehe ich mich also keinesfalls. Doch trotzdem habe ich während meiner Schulzeit oft darüber nachgedacht, ob es anders wäre, wenn meine Eltern auf ein Gymnasium gegangen wären. Ich hatte während meiner Realschulzeit viele Freunde auf dem benachbarten Gymnasium und die meisten hatten Eltern mit Abitur.

Bei den Gesprächen über Lateinklausuren, Abiball und Mottowoche konnte ich nicht mitreden. Gefühlt interessierte sich auch niemand für meinen Abschlussball und den Realschulabschluss. Überall war immer nur die Rede vom Abitur und das lässt einen auch schnell mal sehr klein fühlen. Und selbst danach war das mit dem “mitreden” schwierig. Der zweite Bildungsweg läuft etwas anders ab als die Oberstufe auf dem Gymnasium und eine Abifahrt, eine Mottowoche oder einen großen Abiball erlebte ich auch nicht. 

Und wenn ich sehe, wie wenig Arbeiterkinder eine akademische Laufbahn einschlagen, dann löst das durchaus etwas in mir aus. Ich finde es toll, dass so viele meiner damaligen Mitschüler*innen eine handwerkliche Ausbildung begonnen haben und auch immer noch in ihrem Beruf arbeiten. Aber ich glaube auch, dass viele von ihnen nie über diesen Horizont hinaus geschaut haben.

In der neunten Klasse haben wir einmal ein Berufsinformationszentrum besucht, in dem uns ausschließlich Ausbildungsberufe vorgestellt wurden. Wir sollten auch einen Test ausfüllen, der dir sagt welcher Beruf am Besten zu dir passt. Hätte ich mich daran gehalten, wäre ich jetzt Kanalrohrreinigerin oder Kindertagesmutter. Tolle Berufe, aber sicher nichts für mich. Uns wurden bewusst nur Ausbildungsberufe vorgeschlagen und das lief während der gesamten Realschulzeit so ab. Ich denke, dass meinen Mitschüler*innen und mir sehr viele Perspektiven einfach nie gezeigt wurden und das finde ich sehr schade. Genauso denke ich aber auch, dass vielen Gymnasiasten oft die Perspektive des Ausbildungsberufes verwehrt wird und das ist kein Stückchen besser.

Wir Arbeiterkinder sind nicht weniger schlau oder begabt als andere, aber womöglich wird uns das seltener gesagt. Genauso sollte manchen Kindern öfter mal gesagt werden, dass es keine Schande ist, nicht auf ein Gymnasium zu gehen oder eine Ausbildung zu machen. Und genauso sollte das auch einigen Eltern gesagt werden. Ich bin stolz, bald eines dieser 15 Kinder zu sein, auch wenn meine Mutter mir bestimmt sagen wird, dass ich keinen Grund habe, stolz darauf zu sein „nur, weil ich ein Arbeiterkind bin“.

Johanna Pichler

Johanna ist 23 Jahre alt und studiert Journalismus in Magdeburg. Bei Canapé schreibt sie über Themen, die unsere Gesellschaft und vor allem junge Menschen betreffen. Außerdem probiert sie sich in Sachen Social Media aus. In ihrer Freizeit ist Johanna übrigens auch eigens ernannte Expertin für Trash-TV.

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