L’art pour l’art des Körpers

Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus, ca. 1485/86, Tempera auf Leinwand, 172,5 x 278,5 cm, Florenz, Uffizien

Die Sorge, dass andere Leute die eigene Imperfektion bemerken und kommentieren könnten…

Jede:r, der:die sich im eigenen Körper nicht wohl gefühlt und im Sommer lieber mit langer Kleidung bedeckt hat, statt sommertaugliche Kleidung zu tragen, wird schon einmal den Spruch „das interessiert doch eh keine:n, wie du aussiehst“ gehört haben. Und tatsächlich glaube auch ich, dass die Augen eines:einer jeden viel mehr auf den eigenen Körper und dessen scheinbare Makel gerichtet sind als auf die der anderen. Doch damit ist das eigentliche Problem leider nicht gelöst.

Der Grund für die Scham ist viel mehr in der vergleichenden Betrachtungsweise von Körpern zu suchen. In dem Schönheitsideal unserer heutigen Erfolgsgesellschaft, in der der Körper als Ausdruck von Erfolg und sozialem Status dient (in welcher Serie haben die (erfolg-)reichen Protagonist:innen nicht auch einen muskulösen oder schlanken Körper?); in der der Körper aus seiner Einzigartigkeit gehoben und öffentlich in ein Konkurrenzverhältnis zu den Körpern anderer Menschen gesetzt wird; in der Schönheit nicht mehr als etwas Absolutes, sondern nur noch als etwas Relatives betrachtet wird – Bedingungen erfüllen muss, um als schön zu gelten. Und all das, was vom Ideal abweicht, kann nicht mehr aus sich selbst heraus als schön empfunden werden. Denken wir das Ganze andersrum: Würden wir uns überhaupt noch schön finden, gäbe es keine Spiegel mehr? 

Die Schönheitsgöttin Venus

Diese Sichtweise – der Körper muss objektiven Kriterien entsprechen – ist nicht nur aus dem Grund, dass der Körper zunächst keine Funktion hat, außer den Menschen am Leben zu halten, absurd. Noch viel bedeutsamer ist, dass in unterschiedlichen Zeitepochen und Kulturen unterschiedliche Schönheitsideale galten und gelten. Man möge sich dafür nur einmal das Gemälde „Geburt der Venus“ (ca. 1485/86) des Renaissance-Künstlers Sandro Botticelli anschauen, welches oben abgebildet ist.

Im Laufe der Zeit verändert sich die Sicht auf den Körper; gleich bleibt hingegen, dass Körper immerzu als Kunstwerke betrachtet wurden und werden. Und in unserer heutigen Social Media-Kultur und den Massenmedien, in denen Phänomene wie Body Positivity und Body Gratitude boomen, wird genau das vermittelt: Dein Körper muss nicht verändert werden, um schön zu sein – Dein Körper ist auf die Art und Weise, wie er ist, schön, und es ist Aufgabe des:der Einzelne:n, dies zu akzeptieren.

Es besteht somit offensichtlich ein Zusammenhang zwischen dem, was als schön bezeichnet und durch klare Schönheitsvorstellungen definiert wird, und dem, was wir jeden Tag neu entdecken. Warum sollte ich meinen Körper als vermarktbare Ware betrachten, die ich im Konkurrenzkampf immer besser gestalten muss? Ist es nicht viel spannender, den Körper als einzigartiges, ästhetisches Kunstwerk zu betrachten?

Was ist ästhetisch?

Ästhetisch ist das Schöne und Anregende, das um seiner selbst Willen gefällt. Der Maßstab für die ästhetische Qualität liegt im Gefallen oder Nicht-Gefallen. Ästhetische Dinge, hier der Körper, werden nicht aufgrund ihrer Funktionen oder ihres praktischen Nutzens geschätzt, sondern aufgrund ihrer Erscheinung. 

Seit wann kann etwas perfekt sein?

Mit dieser Definition des Ästhetischen im Hinterkopf, möchte ich zunächst einen etwas wissenschaftlicheren Blick darauf werfen, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass der Körper nicht mehr als ‚reines Funktionsding‘ gesehen wurde, sondern Anforderungen entsprechen muss. 

Der Philosoph Theodor W. Adorno hält zunächst einmal fest, dass sich Kunst – worunter auch die Betrachtung des Körpers als Kunstwerk fällt – im kulturindustriellen Zeitalter der Massenmedien von der Kulturindustrie abgrenzen muss. Die Werbereklamen unterschiedlichster Modelabels, Kosmetikfirmen oder auch TV-Sendungen wie Germanys next Topmodel, die uns immer und überall ‘das Perfekte’ vor Augen halten, haben laut Adorno nichts mit Kunst zu tun – auch wenn die Menschen auf die unterschiedlichsten Leinwände projiziert werden und von diesen gerahmt wie bewegte Bilder aussehen mögen. Weiterhin stellt er heraus, dass in unserer massenmedialen Kulturindustrie, die sich letztlich nur dem Profit verschrieben hat, Kultur gemäß der Logik industrieller Fertigung produziert wird. Im Fernsehen oder auf Social Media gesehen, wird bei uns das Gefühl ausgelöst, dass Erfolg und die diesem entsprechenden Körper erstrebenswert seien oder angestrebt werden müssten. Wir gehen also in Fitnessstudios und betreiben Sport nicht nur, um uns dort auszupowern oder Spaß zu haben, sondern um dem vermarktbaren Schönheitsideal der Werbung  nachzugehen – Körper und Schönheit werden zu Ware reduziert. 

Verstärkt wurde dieser Prozess dadurch, dass bis vor Kurzem keine alternativen, den status quo hinterfragenden Erfahrungsweisen dessen, was als schön gelten kann, eröffnet wurden. So präsentierte Germanys next Topmodel im letzten Jahr das erste Mal seit Beginn  der Show im Jahre 2006 Models, die nicht dem klassischen Modell-Standard entsprachen. Somit wurde uns und vor allem weiblich gelesenen Menschen erst jetzt aufgezeigt, dass sie ihre scheinbaren Makel akzeptieren und vor allem als schön akzeptieren dürfen (sie haben quasi den Segen der Schönheitsindustrie bekommen). Nun wird eine mehrdimensionale Betrachtung von Körpern nicht mehr ausgeschlossen; der Körper kann und darf akzeptiert werden. Dadurch, dass allerdings lange Zeit keine Variationen oder Abweichungen gezeigt wurden, wurde der Infragestellung oder kritischen Reflexion dessen, was gezeigt wurde, kein Nährboden geboten.

L’art pour l’art des Körpers

Heutzutage werden durch die ständige Präsenz von Schönheit gesellschaftliche Wahrnehmungs-, Vorstellungs-, und Denkweisen subtil und fast ständig verfestigt. Selbst wenn man sich also nie dachte, dass man einem bestimmten Bild entsprechen muss, haben wir eingeprägt bekommen, dass wir es eigentlich doch tun sollten. 

Daraus resultiert, dass die Vielschichtigkeit außerhalb der Produktions- und Vermarktungslogik gesucht werden muss: nämlich in dem, was ich, aus dem eigentlichen Kontext gerissen, als L’art pour l’art (sinngemäß übersetzt „die Kunst um der Kunst Willen“) des Körpers bezeichne. 

Darunter verstehe ich die Ästhetik des Körpers aufgrund dessen, dass keine Ansprüche an diesen gestellt werden sollen. Den Körper sehe ich damit als ein Nicht-Bewertbares, absolut Ästhetisches. Der Körper kann um seiner selbst Willen, ohne Bedingungen an ihn zu stellen, als schön betrachtet werden. 

Ich sehe diese Sichtweise als Möglichkeit eines Transformationsprozesses der Sehgewohnheiten im Kampf um die Überwindung von Body Shaming, der Überwindung von Gefühlen und des Glaubens, der eigene Körper sei nicht genug und müsse als Ausdruck eines Lebensstils eine bestimmte Form annehmen. Zugleich dient diese Sichtweise als Kritik daran, dass der:die Einzelne eine positive Sichtweise dem Körper gegenüber annehmen müsse. Zwar bewerte ich die positive Einstellung gegenüber dem eigenen Körper als richtig, möchte meine dargebotene Sicht dennoch von der Bewegung der Body Positivity abgrenzen, da auch diese einen Druck auf Individuen ausüben kann: Nicht in dem Sinn, dass an den Körper Anforderungen gestellt würden, sondern vielmehr im Sinne eines Zwangs, den eigenen Körper, so wie er ist, akzeptieren zu müssen. Durch diese Sichtweise geht das verloren, was der Dichter Friedrich Schiller als das Schöne definiert. Stellt euch vor, ihr seht einen Menschen, den ihr im ersten Augenblick als wirklich schön empfindet und ihm dieses Attribut zuschreibt. Ihr wisst aber nicht genau, warum ihr diesen Menschen überhaupt schön findet, und beginnt mit der Suche nach Eigenschaften der Schönheit, um diese Empfindung greifbar zu machen: Eigenschaften könnten das Lächeln, die Haare, die Augen, die Gesichtsproportionen und vieles mehr sein. All das ist aber etwas, was schon aus dem Bereich des Ästhetischen herausfällt. Das Ästhetische ist viel mehr das Unbenennbare, das vor der Suche nach Eigenschaften, die euch gefallen, passiert. Die ästhetische Erfahrung macht ihr noch bevor ihr auf die Einzelheiten schaut, die ästhetische Erfahrung steht noch vor dem Denkprozess. Es ist das Überwältigende des ersten Erscheinens, bevor ihr überhaupt daran denkt, was euch gefällt – es handelt sich um die sinnlich fundierte ästhetische Erfahrung. 

Schiller zufolge kann diese sinnlich fundierte ästhetische Erfahrung nie ganz frei sein; Irgendwann schaut ihr immer, welche Eigenschaften euch im Einzelnen gefallen. Ein Kunstwerk kann aber als frei erscheinen, wenn es durch sich selbst angesehen wird – Das Schöne ist also das, was frei und autonom scheint. 

Warum den Körper als Kunstwerk betrachten?

In meinem Bestreben, die Vorstellung zu verbreiten, dass dem Körper eine Ästhetik an sich innewohnt, möchte ich abschließend auf die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe zurückgreifen, um das Potenzial verschiedenster Darstellungen von Körpern in der Kunst zu skizzieren.

Mouffe spricht sich dafür aus, dass ästhetische Betrachtungsweisen gerade dort bedeutsam sind, wo sie nicht nur mit dem scheinbar Perfektem brechen, sondern eine konstruktive Perspektive für Veränderung schaffen. Kunst soll also nicht nur infrage stellen, sondern aus der Betroffenheit derjenigen, die in den zu verändernden Verhältnissen leben, einen Gegenraum zu den bestehenden Sichtweisen schaffen. Das heißt, diejenigen, die nicht mit dem klassischen Körperideal übereinstimmen – und ich unterstelle, dass dieses von niemandem erreicht werden kann, da das Erreichen eines Ideals Vollkommenheit und finale Vollendung bedeuten würde –  erlangen durch diese gemeinschaftliche Erfahrung, dass kein Mensch einen perfekten Körper hat und haben kann, neue Perspektiven. Durch den Austausch mit vielen anderen entsteht eine Gegenbewegung (beispielsweise die Body Positivity-Bewegung) zu den Anforderungen der Schönheitsindustrie, die unsere Sichtweise bestimmt – nicht mehr allein die Schönheitsideale auf Social Media diktieren, wie Schönheit auszusehen hat.

Kunst besitzt dabei nicht nur das Potenzial, den Einzelnen aufzuzeigen, dass Alternativen zu der herrschenden Ordnung bestehen, sondern auch den vorherrschenden, wie anhand von Adorno gezeigt wurde, unhinterfragten Konsens aufzuschlüsseln und denjenigen eine Stimme zu verleihen, die im Rahmen der herrschenden Ideologie missachtet werden.  

Die bei der Betrachtung des Körpers möglicherweise ausgelöste ästhetische Erfahrung kann also im Austausch mit Anderen das Bedürfnis nach einem Verstehen und Begreifen eines ästhetischen Werks, dem Körper, erzeugen. Dabei kann sie dazu beitragen,  den eigenen Körper als etwas Ästhetisches zu erfahren und ein Ich zu bilden. Dadurch wird die Möglichkeit eröffnet, dass der:die Betrachtende in ein spezielles Verhältnis zu sich selbst und mit anderen tritt und die Reflexion das Überschreiten der eigenen Wahrnehmung hervorruft. 

Maxim Peters

Maxim ist neunundneunziger Jahrgang, leidenschaftlicher Kaffeetrinker und studiert Politikwissenschaften und Kunstgeschichte in Bonn.
Bei Canapé beschäftigt er sich mit den Themen Kunst, Kultur und Politik.

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